# taz.de -- Gehörloser Politiker in Berlin: „Ich will einfach nicht aufgeben… | |
> Martin Vahemäe-Zierold war Mitglied in einem Berliner Bezirksparlament. | |
> Ein Gespräch über den Kampf um Gebärdensprachdolmetscher, Barrieren und | |
> Erfolge. | |
Bild: Jede Menge Hürden haben Menschen mit Einschränkungen im Alltag zu meist… | |
taz: Herr Vahemäe-Zierold, vor fünf Jahren waren Sie der erste gehörlose | |
Politiker in einem Parlament. Wie erging es Ihnen bei der Arbeit als | |
Politiker? | |
Martin Vahemäe-Zierold: Es war ja eine Art Pilotprojekt, dass ich als | |
erster Gehörloser in die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) gewählt wurde. | |
Das war für alle Neuland, und am Anfang waren alle voller Elan. Aber mit | |
der Zeit wurde es ein großer Kampf. | |
Was genau? | |
Das BVV-Büro hat mir Gebärdensprachdolmetscher für die Sitzungen zugesagt. | |
Meine Partei hat die Kosten für die Übersetzung auf Parteiveranstaltungen | |
übernommen. Aber politische Arbeit ist ja so viel mehr: Termine wahrnehmen, | |
Veranstaltungen besuchen, mit Bürgern ins Gespräch kommen, Telefonate | |
führen, schriftsprachliche Kommunikation. Dafür brauche ich Assistenz, und | |
das wollte keiner so recht bezahlen. Und selbst wenn dann die Kosten mal | |
geregelt waren, dann war es meist in letzter Minute, und ich musste erst | |
einmal so schnell jemanden mit Gebärdensprachkompetenz finden. Ich war sehr | |
gebunden und abhängig, von mehreren Seiten. Ich wurde immer wieder | |
enttäuscht und habe dann gemerkt, dass ich mich genau aus diesen Bereichen | |
zurückgezogen habe, weil das so ein ewiger Kampf war. | |
Müsste die Kosten für die Gebärdensprachdolmetscher nicht das | |
Integrationsamt bezahlen? | |
Wir haben das mal probiert. Aber die vom Integrationsamt haben gesagt, dass | |
die BVV-Tätigkeit nur eine ehrenamtliche Tätigkeit mit | |
Aufwandsentschädigung sei, keine „richtige“ Arbeit. Und dafür seien sie | |
nicht zuständig. | |
Blicken Sie dennoch positiv auf die fünf Jahre zurück? | |
Ja, es gab Erfolge. Im Schulausschuss hatte ich Anteil daran, dass sich das | |
Budget für Inklusion zum Beispiel im Bereich der Schulsanierung erhöht hat. | |
Da haben wir sehr gekämpft. Eines meiner anderen Projekte war die | |
Barrierefreiheit der Homepage der BVV. Da hatte ich damals einen Antrag | |
gestellt in Mitte, der wurde aber abgelehnt. Aber hier in | |
Friedrichshain-Kreuzberg wurde er angenommen. Ich habe schon das Gefühl, | |
dass meine Ideen hier mehr berücksichtigt werden und man versucht, das mit | |
mir umzusetzen. | |
Das heißt, Sie machen jetzt in Friedrichshain-Kreuzberg weiter Politik? | |
Ich habe in Frühjahr den Kreisverband gewechselt, das war dann aber alles | |
sehr kurzfristig. Dann kam auch gleich die Listenaufstellung. Ich hatte gar | |
keine Chance, Leute kennenzulernen aus dem Kreisverband. Deshalb war der | |
Listenplatz relativ weit hinten, aber ich war froh, dass ich überhaupt noch | |
auf die Liste gekommen bin. Jetzt muss ich halt abwarten, ob ich als | |
Nachrücker noch reinkomme in die BVV. Ansonsten werde ich versuchen, erst | |
einmal als Bürgerdeputierter an den Sitzungen teilzunehmen, als eine Art | |
Berater für die Bereiche Schule, Sport und Inklusion. | |
Gab es einen konkreten Auslöser für den politischen Ortswechsel? | |
Ich wollte mich gern auch auf Landesebene aktiv beteiligen und habe mich | |
Anfang des Jahres um einen Listenplatz für das Abgeordnetenhaus beworben. | |
Da hat man mir gesagt, dass ich mich dafür viel aktiver hätte einsetzen | |
müssen. Obwohl ja alle genau wussten, dass man mir für die parlamentarische | |
Arbeit gar keine Assistenz gewährt hat. Das hat mich sehr, sehr enttäuscht. | |
Über Inklusion in der Schule wurde in den vergangenen Jahren viel | |
gesprochen. Gilt das auch für den Arbeitsbereich? | |
Im Bereich Schule scheint es tatsächlich im Bewusstsein angekommen zu sein, | |
dass man da nicht nur mal ein bisschen Inklusion machen kann, wenn gerade | |
das Geld da ist. Sondern, dass es eine Verpflichtung ist, der sich | |
Deutschland mit Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention | |
unterworfen hat. Aber in anderen Bereichen ist es noch nicht richtig | |
angekommen. Ich habe zum Beispiel immer wieder zur Sprache zu bringen | |
versucht, dass gerade auch Menschen mit Lernbeeinträchtigungen nicht | |
automatisch in Sonderbereichen wie den Behindertenwerkstätten landen, | |
sondern dass man versuchen sollte, sie in den regulären Arbeitsmarkt | |
einzubinden. Aber die Gespräche dazu sind immer wieder schnell abgeebbt. | |
Woran liegt das Ihrer Meinung nach? | |
Ich fürchte, da ist das Interesse an Inklusion dann doch nicht so groß, und | |
viele bleiben lieber bei den gewohnten Mustern. Und wenn man selbst nicht | |
betroffen ist, keinen Bezug hat zu dem Thema, dann setzen die Menschen doch | |
andere Schwerpunkte. Und am Ende sind es auch immer wieder die Kosten, die | |
im Kopf herumspuken. | |
Wo steht denn Berlin Ihrer Ansicht nach bei der Inklusion in der | |
Arbeitswelt? | |
Aus Gehörlosensicht kann ich sagen, dass immer mehr Menschen sich | |
selbstständig machen oder auch studieren, weil es leichter ist, | |
Arbeitsassistenz zu beantragen. Das wird besser. Ich habe auch von zwei, | |
drei Bekannten gehört, dass sie Abitur machen können an einer Regelschule, | |
weil sie die Assistenz dafür bewilligt bekommen haben. Lange Zeit war es | |
fast unmöglich, als Gehörloser in Berlin Abitur zu machen – und noch immer | |
gibt es kein Gymnasium, an dem in Gebärdensprache unterrichtet wird. | |
Gibt es inzwischen andere Gehörlose, die Ihrem Beispiel in die Politik | |
gefolgt sind? | |
In Frankfurt am Main kenne ich einen Gehörlosen, der sich kommunalpolitisch | |
engagiert und in diesem Jahr auch ein Amt übernommen hat. Und in | |
Brandenburg, im Havelland, gibt es noch eine Frau, die sich in der SPD | |
engagiert. Aber es sind wenige, und alle arbeiten ehrenamtlich. In | |
Österreich gibt es ja die gehörlose Politikerin Helene Jarmer, die hatte | |
einen ganz schnellen Aufstieg in den Nationalrat. Hier in Deutschland muss | |
man eher die Leiter raufklettern. Dafür muss der Weg von der Basis | |
natürlich frei sein. | |
Waren Sie in den vergangenen fünf Jahren manchmal inklusionsmüde? | |
Manchmal fühle ich mich wie gelähmt, weil die Spontanität bei allem fehlt. | |
Ich kann eben nicht einfach auf eine Veranstaltung gehen, mal eben mit | |
einem Kollegen telefonieren, mich auf ein Bier in der Kneipe treffen. Da | |
spüre ich die Barrieren. Alles kostet viel Zeit und Kraft. Da brauche ich | |
den Ausgleich, den ich in der Gehörlosengemeinschaft, in der | |
Gehörlosenkultur bekomme. Da kann ich auftanken. | |
Aber ein völliger Rückzug in die Gehörlosenwelt kommt für Sie nicht | |
infrage? | |
Für mich war das Streben nach Inklusion immer eine Selbstverständlichkeit. | |
Und ich wollte und will da einfach nicht aufgeben. Deshalb bleibe ich auch | |
bei der politischen Arbeit weiter am Ball. | |
Dieses Interview ist Teil des Wochenendschwerpunkts in der taz.Berlin. | |
Darin außerdem: Wie ein Praktikantin mit körperlichen Einschränkungen den | |
Berliner-Regionalteil der taz aufmischte. | |
25 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Manuela Heim | |
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