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# taz.de -- Studie zur deutschen Kolonialgeschichte: An der fernsten Grenze
> „Skandal in Togo“ lautet der Titel von Rebekka Habermas’ Untersuchung z…
> deutschen Kolonialgeschichte. Eine Fallstudie.
Bild: Postkarte aus „Deutsch-Südwestafrika“: Major Leutwein war dort von 1…
Nein, postkoloniales Denken und Argumentieren ist nicht nur eine
intellektuelle Mode, sondern der einzige Zugang zur Welt- und
Nationalgeschichte, der dem Zeitalter der Globalisierung angemessen ist. Im
Falle Deutschlands scheint das minder zwingend, wird doch die deutsche
Geschichte von der NS-Zeit, dem Holocaust sowie dem Zweiten Weltkrieg
geprägt, gleichwohl: Auch Deutschland hat eine weitreichende koloniale
Vergangenheit, wenngleich es seine Kolonien nach dem Ersten Weltkrieg
verlor.
Dr. Claus Schilling war ein deutscher Tropenmediziner, ein Malariaforscher,
der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einem skandalösen Prozess in
Deutsch-Westafrika, also in der Kolonie Togo, Gutachten zum Körperbau der
„Negerin“ verfasste, um Jahre später ob seiner Menschenversuche mit
Malariaerregern in Dachau 1945 zum Tode verurteilt und 1946 gehängt zu
werden. Führt also, wie der Historiker Jürgen Zimmer vermutete, ein Weg von
„Windhuk nach Auschwitz“?
Vielleicht – indes: wie verschlungen dieser Weg, wenn überhaupt,
tatsächlich war, darüber gibt jetzt eine theoretisch luzide, genaue
Fallstudie der Göttinger Historikerin Rebekka Habermas, die durch Studien
zur Geschlechtergeschichte hervorgetreten ist, Auskunft. Auch in ihrem
neuen Buch bildet ein Kapitel gewaltsamer Geschlechtergeschichte den
Ausgangspunkt.
Im Dezember 1906 debattierte das Parlament des deutschen Kaiserreichs einen
Skandal, der sich in der deutschen Kolonie Togo zugetragen hatte: Ein
Kolonialbeamter soll mit minderjährigen schwarzen Mädchen zusammengelebt
und sie regelmäßig missbraucht haben und schließlich einen Fürsprecher der
Mädchen, einen Stammesältesten, so hart ob seines Aufbegehrens bestraft
haben, dass dieser kurz darauf starb. Ruchbar wurde dieser gar nicht so
seltene, aber typische Fall durch ebenfalls in Togo tätige katholische
Missionare, Angehörige der Steyler Mission, die die Vorfälle der Berliner
Kolonialabteilung gemeldet hatten; eine Meldung, die freilich ohne Folgen
blieb.
## Modern und erfolgreich
Im deutschen Reichstag waren es vor allem die Partei des katholischen
Zentrums in Gestalt der Abgeordneten Matthias Erzberger sowie des
Sozialdemokraten August Bebel, die sich immer wieder kritisch und anklagend
zu den rassistischen und gewalttätigen Auswüchsen der deutschen
Kolonialpolitik äußerten, ohne indes grundsätzlich gegen die
Kolonialpolitik zu sein. Denn: Kolonialismus galt allgemein als Ausdruck
gesellschaftlicher Modernität sowie politischen und ökonomischen Erfolgs.
Rebekka Habermas hat sich in ihrer Untersuchung methodisch und
methodologisch für eine Fallstudie, eine „Microstoria“ entschieden, ein
Vorgehen, das am Ende mehr Aufschlüsse über die tatsächlichen, in sich
widersprüchlichen Züge dieses Herrschaftsmodells liefert, als es jede
großflächige Gesamtdarstellung vermöchte.
Deutscher Kolonialismus: Das war ein In-, Mit- und Gegeneinander eines
rassistischen Sexualregimes weniger deutscher weißer Männer über schwarze
Frauen, einer bitteren Konkurrenz zwischen gebildeten, humanitär gesinnten
Missionaren oft kleinbürgerlicher Herkunft hier und karrieristisch
gesinnten Beamten dort; das war die Existenz eines rassistischen
„Doppelstaats“, in dem für die Weißen das deutsche Recht, für die Schwar…
hingegen ein Bündel von nicht anfechtbaren, oftmals willkürlich erlassenen
Verordnungen und Maßnahmen galt.
All das wurde von einer paternalistischen Erziehungsideologie überwölbt,
die die „Neger“ an geregelte Arbeit sowie an die Monogamie heranführen
wollte. Habermas zitiert ein Gedicht, das sich in der ersten, 1874
erschienenen Ausgabe der Steyeler Missionszeitschrift fand: „Der Kaffer
irrt mit sehnsuchtsvollem Blicke / bis zu der Meere fernsten Grenze hin /
Ob ihm der Norden keinen Retter schicke / Der liebend mild’re seinen harten
Sinn.“
## Dämonisierte „Polygamie“
Im Einklang mit neueren Studien zur politischen Philosophie Afrikas kann
Habermas richtigstellen, dass die von den wohlmeinenden Missionaren
dämonisierte „Polygamie“ keineswegs ein Fall von Sittenlosigkeit und
Vernachlässigung war, sondern oft ein Garant stabiler Lebensverhältnisse
zumal für Frauen. Nicht zuletzt aber war das deutsche Kolonialregime von
Plänen wirtschaftlicher „Entwicklung“ geprägt, d. h. von Kapitalinteresse…
die oft in einem ökonomischen Desaster endeten. So etwa Pläne, Togo zu
einem vor allem Baumwolle produzierenden Land zu machen.
Bei alledem zeigt ein genauerer Blick, dass die konkurrierenden Gruppen der
Weißen von durchaus unterschiedlichen Haltungen zur ansässigen Bevölkerung
geprägt waren: Während die Beamten die „Neger“ vor allem als Kollektiv
ansahen, verstanden sich die Missionare als wohlwollende Fürsprecher der
Einheimischen und waren weniger an deren kollektiven Zügen denn an ihren
individuellen Lebensläufen interessiert – verstanden sie sich doch als
„Verteidiger und Sprachrohr der einheimischen Bevölkerung“.
Nicht zuletzt dokumentiert die Fallstudie jedoch auch den Umstand, dass
Entkolonialisierung und Kolonialismuskritik keineswegs erst nach dem
Zweiten Weltkrieg begannen. Vielmehr wird deutlich, dass es bereits im Zuge
der deutsch-britischen Konkurrenz eine von britischen Kolonien ausgehende,
von Schwarzen betriebene Publizistik gab, dass schon zu Beginn des 20.
Jahrhunderts afrobrasilianische „Eliten“ eine Art selbstbewussten schwarzen
Bürgertums formten und einheimische Autoritäten, „Chiefs“, sich schon fr�…
in Petitionen gegen die deutsche Willkürherrschaft stellten. Der
antikoloniale Kampf begann, das weist Habermas nach, mit der Herstellung
von Öffentlichkeit durch die Unterworfenen.
Insofern kann gelten: Es führte kein gerader Weg von Togo und
Deutsch-Südwest zu den deutschen Vernichtungslagern im europäischen Osten,
den Hitler anstelle der verlorenen Länder Afrikas zum Kolonialgebiet
bestimmt hatte. Gleichwohl: In den deutschen Kolonien wurden all jene
Strategien erprobt, die 35 Jahre später Europa in Angst und Tod versetzen
sollten.
30 Sep 2016
## AUTOREN
Micha Brumlik
## TAGS
Auschwitz
Togo
Kolonialismus
August Bebel
Schwerpunkt Völkermord an den Herero und Nama
Afrika
taz lab 2024
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