# taz.de -- Michael Frensch über Anthroposophie: „Als Anhänger verlieren Si… | |
> Verleger Michael Frensch wurde in den 1968ern vom Atheisten zum | |
> Anthroposophen. Inzwischen hat er sich mit ihnen überworfen: wegen eines | |
> estnischen Mystikers | |
Bild: Kein schlechter Ort, um baltische Mystiker zu studieren: die Flensburger … | |
taz: Herr Frensch, sind Sie Anthroposoph oder Christ? | |
Michael Frensch: Es gibt keinen grundlegenden Unterschied zwischen | |
Anthroposophie und Christentum. Anthroposophie-Begründer Rudolf Steiner | |
legte Wert darauf, dass sich seine Lehre auf das Christentum gründet. Ich | |
selbst bin erst durch die Anthroposophie wieder zum Christentum gekommen. | |
Wie kam das? | |
Da muss ich etwas ausholen. Ich bin ein echter 1968er. Habe an der Uni | |
Frankfurt und dann in München studiert und war bald überzeugt von | |
Feuerbachs Thesen über Religion und Christentum. Wurde dadurch Atheist und | |
betrachtete Religion als Opium fürs Volk. Bis ich, 28-jährig, der Lehre | |
Steiners begegnete. Ich war sofort angesprochen. | |
Wovon genau? | |
Er machte geltend, dass er ein Gebiet erforschen könne, das Menschen | |
normalerweise verschlossen ist. Er sagte: „Wenn ich in meiner Weise | |
forsche, komme ich in ein Gebiet, das ich die übersinnliche Welt nenne.“ Um | |
dahin zu gelangen, musste er zunächst glauben, dass das möglich ist. | |
Später, so hat er mitgeteilt, habe er es wirklich erfahren. Er habe im | |
Gedächtnis der Welt gelesen, das die Inder Akasha-Chronik nennen. | |
Was ist das? | |
Eine unsichtbare große Festplatte, auf der alle Ereignisse, die in de Welt | |
von Anfang an je stattfanden, gespeichert sind. Allerdings ist diese | |
Festplatte nicht wirklich fest, sondern eher eine sehr lebendige prägbare | |
Substanz. | |
Wer speichert da etwas ab? | |
Die Akasha wird von zwei Seiten beschriftet: Hier unten von uns, und von | |
„oben“ durch die geistige Welt. Diese Substanz speichert alles, was | |
passiert. Steiner beansprucht, dort das Christus-Leben und -Wirken auf der | |
Erde gefunden zu haben – also das Christentum als historische Tatsache, | |
neben Buddhismus, Judentum, Islam. Allerdings war für ihn, im Unterschied | |
zu den anderen Religionsgründungen, das Christus-Ereignis der sinnstiftende | |
Mittelpunkt für die gesamte Welt- und Menschheitsentwicklung. Dadurch gibt | |
es ein Davor und Danach. | |
Diese Thesen kann niemand überprüfen. | |
Steiner meinte, man könne. Er war sicher, dass man zu dieser Chronik Zugang | |
bekommt, wenn man einen bestimmten Weg geht – den „Schulungsweg“. | |
Wie weit sind Sie auf diesem Weg? | |
So weit, dass ich Ihnen sagen kann: Es gibt eine solche Realität, die Sie | |
nicht mit den physischen Sinnen erreichen und trotzdem erfahren können. | |
Aber Sie können ihr Sinnesvermögen erweitern. | |
Wie funktioniert das? | |
Mit entsprechend konsequentem Üben, wozu auch Trial and Error gehören, das | |
macht bescheiden. Vor allem müssen Sie ausschließen können, dass Sie nur | |
sehen, was Sie sehen wollen. Das ist schwer. Aber nur dann können Sie | |
sicher sein, dass Sie objektiv etwas wahrnehmen. | |
Parallel haben Sie damals in Philosophie promoviert. Eine brotlose Kunst. | |
Das dachte ich auch. Aber dann traten Dinge ein, die allein durch unsere | |
physische Welt nicht mehr erklärlich sind. | |
Zum Beispiel? | |
Als ich für meine erste Stelle in einem anthroposophischen Verlag | |
kurzfristig ein Zimmer in Freiburg brauchte, hatte ich einen Traum, in dem | |
mir jemand zurief: Geh nach Kirchzarten auf die Bürgermeisterei, dort wirst | |
du ein Zimmer finden! Ich wohnte damals in Basel und dachte: 90 Kilometer | |
zu fahren auf einen Traum hin – das kann teuer werden. Aber ich wagte es. | |
Und nachdem man mich erst abgewimmelt hatte, rief in letzter Minute eine | |
Verwaltungsmitarbeiterin, sie habe ein Zimmer für mich. | |
Reiner Zufall. | |
Ja, das denkt man, und Sie können jetzt natürlich sagen, ich reime mir da | |
etwas zusammen. Aber es ging so weiter: Botschaften kamen nach dem | |
Aufwachen oder im Traum. Mein Leben formte sich und bekam Sinn. | |
Welche Rolle spielte Ihre Sophien-Stiftung? | |
Die haben meine Frau und ich später im bayerischen Kinsau gemeinsam mit | |
Freunden gegründet. Einerseits sollte sie geisteswissenschaftliche | |
Forschungen unterstützen und andererseits Menschen in Not helfen. Wir | |
dachten: Im Mittelalter gab es Klöster, wo jeder anklopfen konnte. Man gab | |
diesen Menschen Suppe oder geistigen Rat. Die patriarchalische Gesellschaft | |
von damals muss man nicht wiederholen, aber die Idee ist gut. Wir waren | |
zehn, zeitweise zwölf Erwachsene, haben einen Bauernhof umgebaut und boten | |
denjenigen, die durchs soziale Netz fielen, eine Anlaufstelle. | |
War es eine Art SOS-Kinderdorf? | |
Eher ein Pflegefamilien-Modell. Wir haben vom Landkreis vermittelte | |
„Problem“-Jugendliche in die Familien und notleidende Erwachsene in unsere | |
Gemeinschaft aufgenommen. Auch bei uns zu Hause wohnten eine Zeitlang zwei, | |
drei Jugendliche. | |
Julia, die erste Ihrer zwei schwerstbehinderten Töchter, war da schon | |
geboren. | |
Ja, und sie wirkte auf ihre Weise mit, sozusagen als Miterzieherin. Die | |
„schwierigen“ Jugendlichen wurden weich, wenn sie sie sahen. | |
Immer? | |
Eigentlich schon. Aber einmal ist ein erwachsener Betreuter entgleist, weil | |
er seine Medikamente nicht regelmäßig nahm und plötzlich ein Messer in der | |
Hand hatte. Da mussten wir eingreifen und ihn in die Psychiatrie | |
zurückbringen. | |
Julia starb als Achtjährige. Was war sie für ein Kind? | |
Ein sehr besonderes, und dazu gibt es wieder eine Geschichte. Als meine | |
Frau im fünften Monat war, erfuhr ich im Traum, dass ein bestimmter Mensch | |
kommen würde. Ich fuhr im Traum das Familienauto mit meiner Frau und den | |
beiden damals schon geborenen nicht behinderten Kindern darin. Ich fragte | |
mich, wie ich mit meinem Nonkonformismus meine Familie ernähren sollte. | |
Plötzlich merkte ich, dass das Auto auch ohne mein Zutun in die richtige | |
Richtung fuhr. Ich ließ das Steuer los, drehte mich um und sah: Da ist ein | |
Mensch, der hält noch ein Steuerrad in meinem Rücken. Als Julia dann | |
geboren wurde, wusste ich sofort: Sie ist dieser Mensch. | |
Inwiefern hielt Julia im realen Leben das Steuer in der Hand? | |
Durch ihr Schicksal wurden viele Begegnungen möglich, die es sonst nicht | |
gegeben hätte – mit Therapeuten, Ärzten und Menschen, die sich für sie | |
interessierten. Dabei war Julia seit ihrem zweiten Lebensjahr blind und | |
total bewegungsunfähig: Ihre einzigen Regungen waren BNS-Krämpfe, eine Art | |
epileptische Anfälle. Ansonsten konnten wir nur an einem Schmatzen | |
erkennen, was sie gerade erlebte und wie es ihr ging. Aber Julia hat uns | |
viele Türen geöffnet und durch die Blinden- und Sozialrente unsere | |
finanzielle Situation verbessert. | |
Drei Jahre vor Julias Tod wurde Anna geboren, nach einem Sturz gleichfalls | |
schwerbehindert. | |
Ja. Julia hatte mir im Traum gesagt, dass noch jemand käme, der uns | |
weiterhelfen würde. Sie zeigte mir einen Menschen, der schweigend einfach | |
nur dasaß mit strahlend blauen Augen. Das war Anna. Sie saß im Rollstuhl, | |
sprach nie und hatte blaue Augen. Sie hat wie ein Verbindung-schaffender | |
Mensch gewirkt. Wer ihr näher kam, war von ihr tief berührt, obwohl sie | |
äußerlich total hilflos war. Ihretwegen sind wir auch in die Nähe von | |
Flensburg gezogen. | |
1.000 Kilometer von Ihrem damaligen Wohnort entfernt. Warum? | |
Unser damaliges Haus bei Schaffhausen war nicht rollstuhlgerecht, wir | |
hätten massiv umbauen müssen. Im Süden fanden wir nichts Geeignetes, und | |
dann sagten uns Freunde, die an der Flensburger Förde wohnten, dass es | |
neben ihrem gerade im Entstehen begriffenen homöopathischen Zentrum ein | |
barrierefreies Haus am Meer gäbe. | |
Fiel es Ihnen nicht schwer, ihre Freunde zurückzulassen? | |
Schon, aber Anna hat uns sozusagen klargemacht: Dort geht es nicht weiter. | |
Und man muss wach für den Moment sein, wenn etwas zu Ende ist. | |
Was tun Sie jetzt in Flensburg? | |
Meine Frau und ich haben den Novalis-Verlag aus dem Süden mitgebracht, | |
einen seit über 70 Jahren bestehenden Nischenverlag, der viel | |
Anthroposophisches verlegt, aber nicht ausschließlich. Außerdem haben wir | |
unsere Deutsch-Schweizer Sophienstiftung in die deutsche | |
Anna-Sophien-Stiftung umgewandelt. | |
Sie wurde ergänzt um den Namen Ihrer 23-jährig verstorbenen behinderten | |
Tochter Anna. | |
Ja, durch ein gestiftetes Erbe von Anna wurde die Sophienstiftung | |
erweitert, und das kommt im Namen zum Ausdruck. Dabei ist ein neues Ziel | |
hinzugekommen: Menschen in vergleichbarer Situation zu beraten oder sie | |
weiterzuvermitteln. Zudem betreut die Stiftung seit einem Jahr ein Archiv | |
über den 1973 verstorbenen Valentin Tomberg. Ich habe sein Hauptwerk | |
„Meditationen über die 22 Großen Arkanas des Tarot“ aus dem Französischen | |
ins Deutsche übersetzt und gemeinsam mit Elisabeth Heckmann eine große | |
Biographie über ihn verfasst. | |
Wer war Valentin Tomberg? | |
Ein in St. Petersburg geborener Este, dessen Familie 1917 vor der | |
Russischen Revolution nach Estland floh. Er begegnete früh der | |
Anthroposophie und war sofort überzeugt, dass es die geistige Welt nicht | |
nur gibt, sondern dass man sie auch erforschen kann. Aber er wusste auch: | |
Die Ergebnisse sind keine im üblichen Sinne wissenschaftlich beweisbaren, | |
sondern innere Gewissheiten. | |
Stimmt es, dass Sie sich seinetwegen mit den organisierten Anthroposophen | |
überwarfen? | |
Ja, denn sie beschränken sich bis heute fast ausschließlich auf | |
Mitteilungen Steiners. Zudem hatte sich Tomberg später mit der katholischen | |
Kirche verbunden. Und die ist für die anthroposophische Gesellschaft ein | |
schwieriges Kapitel. | |
Warum? | |
Weil sich die Anthroposophische Gesellschaft als fortentwickeltes | |
Christentum versteht. Die katholische Kirche gilt dort als veraltete Form. | |
Und wenn Sie über jemanden schreiben, der sich dezidiert in die Kirche | |
stellt und zugleich übersinnliche Forschungen betreibt und mitteilt, | |
entsteht ein Konkurrenzproblem. Schon deshalb hatte ich in der | |
Anthroposophischen Gesellschaft in den 1990er-Jahren keinen leichten Stand. | |
Sind Sie noch Mitglied? | |
Nein. ich bin Ende 2004 ausgetreten. | |
Würden Sie sich eigentlich als Tomberg-Anhänger bezeichnen? | |
Weder als Anhänger von Steiner noch von Tomberg. Wenn Sie Anhänger werden, | |
verlieren Sie, was Sie brauchen, um klare Erkenntnisse zu erzielen: Ihre | |
individuelle Freiheit. | |
18 Sep 2016 | |
## AUTOREN | |
Petra Schellen | |
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