| # taz.de -- Sloterdijks „Das Schelling-Projekt“: Eine Bejahung der Körperl… | |
| > Peter Sloterdijk schreibt über die weibliche Sexualität. Wer die | |
| > 68er-Bewegung miterlebt hat oder verstehen will, sollte seinen Roman | |
| > lesen. | |
| Bild: Peter Sloterdijk pilgerte einst wie so viele ins indische Poona, um die E… | |
| Das Letzte, was ich von dem ebenso erfolgreichen wie umstrittenen | |
| Philosophen Peter Sloterdijk gelesen hatte, war ein Zeitungsartikel, in dem | |
| er sich breit zur aktuellen Flüchtlingsfrage äußerte, die Kanzlerin in | |
| ihrer offenherzigen Politik kritisierte und dabei eine beklemmende | |
| Annäherung an das Dumpfbackentum vorführte, eine behäbige, spießige | |
| Verteidigung eigener Guteingerichtetheit vornahm. Endlos in sich selbst | |
| kreisende Sätze, gebremster Schaum. Wieder einmal, [1][wie so oft], hatte | |
| dieser Autor ohne die Kraft zur Zäsur und zum Verstummen geschrieben. | |
| Jetzt allerdings muss ich ihm freilich Abbitte tun, jedenfalls in Hinsicht | |
| auf seinen soeben erschienenen Roman „Das Schelling-Projekt“. Dieses Buch | |
| hat es verdient, von all jenen gelesen zu werden, die die Studentenbewegung | |
| der Achtundsechziger sowie die Jahre danach miterlebt haben oder als | |
| Nachgeborene verstehen wollen. Dank Sloterdijk wird deutlich, dass die | |
| Bestrebungen jener Zeit von Intuitionen gewaltiger historischer Dimension | |
| geprägt waren. | |
| Er hatte die Kritische Theorie Adornos rezipiert, war dann aber wie viele | |
| andere auch nach Indien gegangen, um bei [2][Baghwan in Poona] für drei | |
| Monate zentrale Erfahrungen zu machen. Die dort erworbene Aufmerksamkeit, | |
| Gegenwärtigkeit und Bejahung der Körperlichkeit und sexuellen, in der | |
| Promiskuität ausgelebten Triebe sollte fortan sein Schreiben bestimmen und | |
| zu einer Philosophie führen, die verschiedene Stränge des neueren | |
| abendländischen Denkens zusammenführen konnte, um eine antidepressive, | |
| nicht länger vom Todesgedanken beherrschte, sondern geburtliche | |
| Lebenspraxis zu propagieren. Es war an der Zeit, wieder an Nietzsches | |
| Entdeckung des Vorrangs der Leiblichkeit vor dem Geist anzuknüpfen. | |
| ## Das weibliche Empfinden ist nuancierter und reicher | |
| Der Roman kennt keinen einheitlichen Erzähler mehr. Fünf befreundete Leute, | |
| dazu der Autor selbst, schicken sich gegenseitig Mails, in denen sie sich | |
| auf ein Projekt beziehen, das sie gemeinsam bei der Deutschen | |
| Forschungsgemeinschaft eingereicht haben. Ihr Vorhaben ist kühn: Sie wollen | |
| eine Untersuchung der im Lauf der Evolutionsgeschichte zur Reife | |
| gelangenden weiblichen Sexualität unter ständiger Rücksicht auf die | |
| Naturphilosophie des Deutschen Idealismus vornehmen. | |
| Ihre These dabei ist, dass das weibliche Empfinden beim Beischlaf | |
| nuancierter und reicher ist als dasjenige des Mannes. Sie wollen | |
| beschreiben, wie im Orgasmus der Frau das materielle Universum die Augen | |
| aufschlägt. Das stolze Projekt wird von den Bürokraten in Bonn rasch als | |
| unwissenschaftlich abgelehnt, aber umso entspannter kann das Grüppchen sein | |
| Thema nun in den aufeinander antwortenden Mails gedanklich umkreisen. | |
| Bedeutend an diesem Buch ist der Rückgriff auf Schelling. Die sechs | |
| Korrespondenten wollen allesamt Schellingianer sein. Sloterdijk lädt zu | |
| einer erneuten Entdeckung von dessen Denken ein, das der Fichteschen These | |
| vom sich selbst setzenden Ich eine materielle Geschichte vorschaltet. | |
| Schelling will einen Schritt weitergehen als Fichte und eine Naturgrundlage | |
| von Ich und Sein konzipieren. Er wird vom Autor als ein Philosoph | |
| begriffen, der sich eindringlich für die Sexualorgane seiner jungen Frau | |
| interessiert und die Natur als eine „geistnahe Gebärkraft“ auffasst. In | |
| diesem Sinn kann er jetzt zum Ahnherrn dieser vom Wissenschaftsbetrieb | |
| abgelehnten Projektsteller werden, von denen zumindest Sloterdijk eine | |
| Zeitlang Sannyasin war und die sämtlich dem Rausch der Organe und der | |
| sinnlichen Ekstase den lange verwehrten Platz einräumen wollen. | |
| Der Verfasser der „Kritik der zynischen Vernunft“ greift hiermit | |
| Intuitionen der Frühromantiker auf, die näher zu verfolgen wären; er | |
| zitiert Ibn Arabi und die islamische Mystik, die ganz ähnlich Göttliches | |
| mit kreatürlicher Lust verbindet. Nicolaus Sombart, 2008 verstorben, grüßt | |
| mit einer Mail aus dem Jenseits und erinnert an seine eigene literarische | |
| Verherrlichung des Koitus. | |
| ## Ein vergnüglicher Roman | |
| Sloterdijk bezeichnet den von ihm hierbei mit großer Ausdauer erzeugten | |
| Stil selbstbewusst als einen, der wie Perlen aus einem Champagnerglas | |
| aufsteigt. Dieser tatsächlich prickelnde Stil ist übrigens bei allen | |
| Mailpartnern derselbe; der O-Ton Sloterdijks – das ließe sich kritisch | |
| einwenden – wird folglich nicht wirklich konterkariert, das Dialogische | |
| nicht wirklich entfaltet. Hier ein Beispiel für derlei aufsteigende | |
| Bläschen: „Ist Dir bewusst, dass Du beim Liebesspiel nicht durchwegs | |
| dieselbe Frau bleibst? Das eine Mal wimmerst Du auf dem Höhepunkt wie ein | |
| schuldbewusstes Kind, das eine Bestrafung auf sich nimmt. Das andere Mal | |
| stöhnst Du als sterbender Krieger, wenn er mit dem Gott der Schlachten eins | |
| wird.“ | |
| Dieser Roman gehört wohl zum Lockersten, Vergnüglichsten, was Sloterdijk je | |
| geschrieben hat. Gerade dass nur von einem angedachten Projekt ohne nähere | |
| Ausarbeitung und bloßen Ansätzen erzählt wird, stiftet Leichtigkeit. Hier | |
| ist der Autor über sich selbst hinaus. In Zukunft müsste er das hier | |
| angesteuerte Dialogische weiterentwickeln, von durchgeführter | |
| Theoretisierung, dem Drang zur Weitwinkel-Perspektive und der Errichtung | |
| argumentativer Gebäude Abstand nehmen. Vielleicht findet er ja auch noch zu | |
| Lakonie, die für ihn erst eigentlich rettend wäre. | |
| 3 Sep 2016 | |
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| Eberhard Geisler | |
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