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# taz.de -- Debatte Radikalisierung des Bürgertums: Der Sarrazin für Alphabet…
> Teile des Bildungsbürgertums radikalisieren sich. An den Tiraden des
> Philosophen Peter Sloterdijk kann man das exemplarisch beobachten.
Bild: Sarrazin und Sloterdijk (Fotomontage): Was wollen uns diese Männer mit i…
Man darf sich wieder fürchten. Vor Selbstzerstörung. Überrollung.
Souveränitätsverlust. Was in den vergangenen Monaten in den gutbürgerlichen
Döblinger und Charlottenburger Salons nur geraunt wurde – mit dem
kleinbürgerlichen Pöbel von Pegida wollte man sich auch nicht zu deutlich
gemeinmachen –, darf jetzt offen ausgesprochen werden.
Wer es für übertrieben hält, sich vor Flüchtlingen zu fürchten und noch
nicht das finis Germaniae oder finis Austriae unmittelbar bevorstehen
sieht, gilt von Döbling bis Charlottenburg nicht mehr nur als
„Realitätsverweigerer“, nein, er ist ein „Kläffer“ mit „Beißreflex…
hat es ja quasi amtlich: Peter Sloterdijk, von manchen irrigerweise als
Vorzeigeliberaler unter den Philosophen gefeiert, hat all dem seinen Segen
erteilt, indem er prominente Kritiker seiner Untergangsrhetorik öffentlich
auf Wadenbeißerformat zurechtgestutzt hat.
Die verwendeten Sprachbilder zeugen von einer wachsenden Radikalisierung
und Menschenverachtung der sich selbst für gebildet haltenden Schichten.
Sie sind auch ein weiteres Anzeichen dafür, dass die soziale Barriere bald
brechen könnte, die bislang das deutschsprachige Bildungsbürgertum von den
„besorgten Bürgern“ von Pegida und AfD getrennt hat.
Nicht mehr nur der sprichwörtliche Junker und die christlich-reaktionäre
Aristokratin (Beatrix von Storch) verirren sich gelegentlich in den
Neofaschismus, der auf der Straße strukturierte demokratische Verhältnisse
außer Kraft setzen will. Auch der bislang gemäßigt auftretende
Neokonservatismus des selbst ernannten Bildungsbürgertums steht mit einem
Bein drin. Ob bewusst oder unbewusst, ist irrelevant. Ebenso, für wie
„national“ sich die Proponenten selbst halten.
Es war eine Entwicklung in Nuancen. Exemplarisch lässt sie sich, mit etwas
Zeitverzögerung, an Sloterdijks Werk und öffentlichen Stellungnahmen
nachvollziehen. Er greift die aktuellen Moden des deutschsprachigen
Bildungsbürgertums auf, vermengt sie mit Philosophie und Literatur und
dreht sie durch seine Ein-Mann-Metaphern-Fabrik, um sie wortgewaltig und in
ihren besten Momenten unterhaltsam auf den Buchmarkt zu werfen: als
literarische Polemik, die Be- und vor allem Empfindlichkeiten dessen, was
sich für Bildungsbürgertum hält, als tiefere Einsicht in das Wesen der Welt
als solcher verkauft oder zumindest der Gesellschaft.
## Sprachlich und inhaltlich immer radikaler
Mit dem, was man gemeinhin als Wirklichkeit bezeichnet, hat das nicht
zwingenderweise zu tun. So wie die als Analysen getarnten Tiraden weniger
geistreicher Vertreter des Neokonservatismus sprachlich und inhaltlich
immer radikaler werden – man denke an Andreas Unterberger, den
inoffiziellen Doyen des wehrhaften österreichischen Spießbürgertums –, sich
immer mehr und immer lustvoller in die Angst vor dem Untergang des
Abendlandes steigern, so werden auch Sloterdijks Thesen immer düsterer,
lugt die Apokalypse immer deutlicher hinter den Nebelwänden seiner
Metaphern hervor, die allzu oft verbergen, was er zu sagen hat und noch
viel öfter, dass er nichts zu sagen hat. Zumindest nichts Neues.
Es ist viel, was etwa Unterberger und Sloterdijk verbindet: das Misstrauen
gegenüber dem Staat, bei neuerdings gleichzeitiger „Sorge“ um dessen
Souveränität, der Hass auf den Sozialstaat im Speziellen, die lustvolle
Angst vor dem Untergang des Abendlandes. Nur dass das bei Sloterdijk
„Bastardisierung“, „Hybridisierung“ heißt, oder „Kreolisierung“. M…
die so stark genetisch geprägt sind, ohne allzu offensichtlich rassistisch
zu sein, dass sie ein Bindeglied sind zum klassisch neurechten Diskurs vom
Ethnopluralismus.
Auch Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ lässt sich nur aus
dieser Perspektive halbwegs in ein sinnstiftendes, wenn auch
kontrafaktisches Weltbild einordnen. Das Werk als zwischen Buchdeckel
gepresste Rationalisierung des kleinbürgerlichen Ressentiments gegen
Zuwanderung kann als Vorläufer von Sloterdijks eigenem Buch „Die
schrecklichen Kinder der Neuzeit“ gesehen werden.
Der Karlsruher Professor zollt im Essay „Letzte Ausfahrt Empörung“ aus dem
Jahr 2015 Sarrazin Anerkennung: „[…] Ein bewährt robustes Mitglied (der
SPD, Anm. d. Red.), das unter Aufbietung ausführlicher Beweise Unstimmiges
in der deutschen Zuwanderungspolitik aufdeckte – und dabei Tatsachen
vortrug, die ohne genetische Begründungsversuche solider dastehen als mit
diesen.“
## Geronnenes Ressentiment
Sloterdijk ist mit seinen „schrecklichen Kindern“ subtiler. Und radikaler.
Vor allem in der Täter-Opfer-Umkehr, ganz in klassisch-konservativer
Tradition. Nicht Deutschland schafft sich durch Migration selbst ab. Die
europäische Zivilisation tut es durch die Moderne.
Es ist Sarrazin, gereinigt von offensichtlichem Rassismus, angereichert mit
Esoterik, Nietzsche und Sloterdijks Metaphern, die verdecken, dass die
„schrecklichen Kinder“ kaum mehr sind als in Lettern geronnenes
Ressentiment gegen die Moderne und ihre Vorstellung, alle Menschen seien
gleich an Rechten und Würde. Peter Sloterdijk, der Thilo Sarrazin der
Alphabetisierten.
Nicht die Armut ist der Skandal. Sondern dass die Moderne den Armen
angestachelt halt, gleiche Teilhabe zu fordern wie der Reiche. Es ist nun
einmal nicht genug da für alle, so der alte Topos, von Sloterdijk in
gelehrte Worte gekleidet. Der Planet gebe nun mal nicht genug her, lässt er
in Interviews verlauten.
## Recht auf Teilhabe am Wohlstand?
Der Satte urteilt über den Hungrigen. Und greift in Form der Kulturkritik,
die sich zur Kulturvernichtung aufschwingt, das Narrativ auf, das seit dem
Fall der Mauer wieder salonfähig geworden ist und an dem sich der Professor
aus Karlsruhe noch 2003 die Zähne ausgebissen hatte: Die reine Vorstellung,
der Arme habe ein Recht auf Teilhabe am Wohlstand, und damit auf einen
Sozialstaat, der Wünsche schaffe, die nicht erfüllt werden könnten.
Damals setzte es Kritik. Heute werden die „schrecklichen Kinder“ im
konservativen Feuilleton und in neurechten Periodika als große Erkenntnis
gefeiert. Auch das eine kleine Episode, die zeigt, wie weit sich das
Bildungsbürgertum inzwischen radikalisiert hat. Besser wird es nicht, wie
man an der aktuellen Debatte sieht.
26 Mar 2016
## AUTOREN
Christoph Baumgarten
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