# taz.de -- Umstrittene Grundschulreform: Lobby gegen die Schreibschrift | |
> Der Grundschulverband will die Schreibschrift nach finnischem Vorbild | |
> abschaffen. Microsoft & Co wittern ein großes Geschäft. | |
Bild: Mehr Schreibschrift, mehr Grips | |
In der Gemeinschaftsgrundschule Moers-Repelen lernen die Erstklässler keine | |
Häkchen und Schleifen mehr. „Mit der neuen Grundschrift soll sich von | |
Anfang an eine formklare und lesbare Handschrift entwickeln“, sagt Barbara | |
van der Donk, langjährige Rektorin in der Stadt am Niederrhein. Schon seit | |
2010 verzichtet die Schule auf das Unterrichten einer Schreibschrift – mit | |
Erfolg, wie van der Donk betont: „Die Lehrer sind zufriedener mit den | |
Ergebnissen, die Kinder müssen sich nicht mehr quälen.“ | |
Die Moerser Schule ist eine Ausnahme in Nordrhein-Westfalen. 50 der | |
insgesamt 3.200 Grundschulen im bevölkerungsreichsten Bundesland erproben | |
die Grundschrift. Der Grundschulverband wirbt seit Jahren dafür: Mit der | |
Grundschrift lernten die Kinder besser schreiben, glaubt der Vorstand. Da | |
viele Kinder schon vor ihrer Schulzeit Druckbuchstaben imitieren und sich | |
so selbstständig ganze Wörter beibringen – sei die an Druckschrift | |
erinnernde Grundschrift leichter zu lernen. | |
„Lesen- und Schreibenlernen sind damit nicht mehr getrennte Lehrgänge, | |
sondern eine Einheit“, heißt es in einer schriftlichen Stellungnahme. Was | |
in NRW bisher nur als Testlauf existiert und in Hamburg seit 2011 jeder | |
Schule freisteht, soll anderswo bald verbindlich gelten. | |
## Finnland schafft Schreibschrift ab | |
Bis Herbst 2016 will Finnland, der nordeuropäische Klassenprimus und | |
ständige Spitzenreiter der Pisa-Bildungstests, das Lernen einer | |
Schreibschrift endgültig abschaffen. Sie koste zu viel Mühe und sei auch | |
motorisch kompliziert, kündigten die Schulplaner aus Helsinki im | |
vergangenen Jahr an. Die finnischen Grundschüler lernen demnächst | |
flächendeckend nur noch die Druckschrift. Die frei werdende Zeit sollen sie | |
stattdessen am Computer verbringen. Das „flüssige Tippen auf der Tastatur“, | |
so Bildungsministerin Minna Harmanen, sei ohnehin eine viel bedeutsamere | |
Kompetenz. | |
In Deutschland löste das finnische Beispiel eine kontroverse Debatte aus. | |
Wie bei anderen Themen der Bildungspolitik herrscht auch beim | |
Schreibenlernen hierzulande das föderalistische Chaos. Vier verschiedene | |
Schriftarten lernen Kinder derzeit an deutschen Grundschulen (siehe | |
Kasten). Wird dieses Durcheinander jetzt wie in Finnland durch eine überall | |
verbindliche Druckschrift ersetzt – kombiniert mit der verstärkten Nutzung | |
von Computern? | |
Viele Fachleute sind skeptisch. Es geht ihnen nicht darum, in | |
rückwärtsgewandter Romantik den Verlust der eigenen Handschrift zu | |
beklagen. Aber sie betonen, das Schreiben mit der Hand sei eine | |
Höchstleistung des menschlichen Gehirns. Den mühsamen Lernprozess, der viel | |
Geduld erfordert, halten sie für einen wichtigen Schritt in der kindlichen | |
Persönlichkeitsentwicklung. Gestützt werden solche Argumente durch die | |
internationale Forschung. | |
## Schreibschrift fördert die Gehirnaktivität | |
So fand die US-Amerikanerin Karin James 2012 in einer Untersuchung heraus, | |
dass beim Schreiben per Hand mehr Hirnaktivitäten messbar sind als beim | |
Eintippen von Zeichen auf einer Tastatur. In ihrer Versuchsanordnung hatte | |
die Psychologin Kinder im Vorschulalter gebeten, einen Buchstaben auf drei | |
verschiedene Arten entstehen lassen: auf einem weißen Blatt, anhand einer | |
gepunkteten Linie oder per Computer. Die Expertin schloss aus ihren | |
Ergebnissen, dass handschriftliche Übungen das Gehirn besonders anregen. | |
Gerade die „Unordnung“ der mit dem Stift verfassten Buchstaben lege | |
Gedächtnisspuren an und vergrößere den Lerneffekt. Weitere Studien in | |
Kanada und den Vereinigten Staaten haben gezeigt, dass Schüler sich mit | |
einer Verbundschrift Texte besser merken und ihren Sinn besser erfassen | |
können. | |
Auch Ursula Bredel, Professorin für „Deutsche Sprache und ihre Didaktik“ an | |
der Universität Hildesheim, legt Wert auf das Üben mit verbundenen | |
Buchstaben. Dies habe positive Wirkungen auf die Sprach- und | |
Rechtschreibkompetenz von Grundschülern. Die Handschrift sei ein | |
sogenannter „komotorischer Prozess“: Nicht einzelne Buchstaben „werden | |
isoliert verschriftet, sondern Buchstabenfolgen, die sprachlichen Einheiten | |
entsprechen“. | |
Die niedersächsische Germanistin kritisiert die deutsche Bildungspolitik | |
für ihren Aktionismus. Vor der flächendeckenden Einführung einer neuen | |
Schrift brauche man „ein wissenschaftlich gut begleitetes Pilotprojekt, mit | |
Kontroll- und Experimentalgruppen, bei denen man testet, wie sich die | |
Schreibkompetenz über einen längeren Zeitraum entwickelt“. | |
## Riesengeschäft für die Computerlobby | |
Wilfried Bos, Professor für Schulentwicklungsforschung in Dortmund und | |
Leiter der Internationalen Grundschuluntersuchung Iglu, „regt es ziemlich | |
auf, dass wir didaktische Entscheidungen, die möglicherweise von großer | |
Bedeutung für das spätere Leben vieler Kinder sind, ohne ausreichende | |
empirische Grundlage treffen“. | |
Der Streit über das handschriftliche Lernen wirkt wie ein Kulturkampf, es | |
geht aber auch um viel Geld. Denn der Abschaffung der Schreibschrift könnte | |
der massive Einsatz der Computer folgen: Was Schüler bisher billig mit | |
Stift und Papier tun, sollen sie künftig mit einem hunderte Euro teuren | |
Hilfsmittel erledigen. In Deutschland ist die digitale Ausstattung der | |
pädagogischen Institutionen im Vergleich etwa zu Finnland nicht allzu weit | |
fortgeschritten. Für über acht Millionen Schulkinder eigene Rechner | |
anzuschaffen, diese regelmäßig zu warten und die Lehrer entsprechend | |
weiterzubilden, ist ein Riesengeschäft. | |
„Mit der Einführung von Endgeräten ist es nicht getan“, meint etwa Marian… | |
Janik, Geschäftsleiterin bei Microsoft. Sie wünscht sich einen „digitalen | |
Bildungspakt quer durch die ganze Gesellschaft, um unseren Wohlstand zu | |
sichern“. | |
Die beteiligten Firmen trommeln seit Jahren für eine „digitale Agenda“, die | |
die Bundesregierung dringend vorantreiben müsse. „Jeder Schüler sollte ein | |
Tablet oder ein Notebook zur Verfügung haben“, fordert Dieter Kempf, | |
Präsident des Branchenverbands Bitkom. 90 Prozent aller Berufe, so das | |
Argument der Branche, erforderten digitale Kompetenzen. | |
## Computer für 7 Milliarden Euro | |
Die Kosten für die digitale Aufrüstung für Rechner, Anschlüsse und | |
Fortbildung liegen nach Schätzungen von Experten bei rund 800 Euro pro | |
Schüler. Das ganze Projekt summiert sich auf mindestens 7 Milliarden Euro | |
bundesweit. Da scheint es kein Zufall, wenn Lobbyisten ständig über die | |
„mittelalterliche“ Technik in den Bildungseinrichtungen klagen oder eine in | |
Deutschland angeblich besonders ausgeprägte „Computerfeindlichkeit“ | |
anprangern. | |
Ein Kern Wahrheit steckt in dieser Kritik: Die Schule bildet eine Art | |
analoges Refugium inmitten der digitalisierten Gesellschaft. In einer | |
Befragung des Lehrerverbandes Bildung und Erziehung erklärten 63 Prozent | |
der befragten Pädagogen, die ständige Kommunikation per Smartphone sei ein | |
wichtiger Grund für den Verfall der Schreibfähigkeiten ihrer Schüler. | |
Die verbindliche Einführung der Grundschrift nach finnischem Muster scheint | |
indes weit entfernt. Nachfragen in den zuständigen Behörden der Länder | |
ergeben ein unscharfes Bild: Nichts ist im Detail vorgegeben, die | |
Lehrmethode bleibt meist den Schulen vor Ort überlassen. | |
Eindeutiger äußerte sich Bundesbildungsministerin Johanna Wanka vergangenes | |
Jahr in einem Interview: „Nicht alles, was Finnland macht, muss richtig | |
sein“, sagte sie in der Bild-Zeitung. „Schreibschrift fördert die | |
Feinmotorik und das logische Denken.“ Sie aufzugeben bezeichnet Wanka als | |
„Fehler“. Und appelliert an ihre 16 Bildungsministerinnen und -minister: | |
„Wir müssen die Schreibschrift retten!“ Kleiner Schönheitsfehler: Im | |
deutschen Bildungsföderalismus hat auch die oberste Bildungsministerin oft | |
wenig zu sagen. | |
24 Aug 2016 | |
## AUTOREN | |
Thomas Gesterkamp | |
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