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# taz.de -- Plastik im Watt: Friedensmission in der Nordsee
> Die Lobby der WattfahrerInnen sammelt Müll auf dem unbewohnten
> Nordsee-Inselchen Minsener Oog. In wenigen Stunden kommen fast 18.000
> Teile zusammen
Bild: Aus dieser Perspektive sieht auf dem Minsener Oog noch alles ganz sauber …
Minsener Oog taz | Die kleine Plastikschnur im Sand sieht schon ziemlich
alt aus. Zieht man vorsichtig an ihr, entwurzelt man ein Büschel
Strandgras. Und auf den Wurzelballen folgt ein gut eingewachsenes, nur halb
verrottetes Netz, auch aus Plastik. Vermutlich stammt es von einem
Fischkutter. Es scheint hier auf dem Minsener Oog, der östlichsten
Sandablagerung Ostfrieslands schon so lange zu liegen, wie es die
Halbwertzeit von Kunststoffen erlaubt. Eine Ewigkeit.
Die Nordsee-Insel ist keine vier Quadratkilometer groß. Und unbewohnt. Nur
ein Radarturm steht hier, ein paar Wohnbaracken, eine alte Gleisanlage.
Aber das Minsener Oog ist eine Art Schmutzrechen für die Deutsche Bucht.
Und genau deswegen Schauplatz einer wohl bislang einzigartigen Aktion: Die
Interessenvertretung der WattfahrerInnen, der Verein Soltwaters, hat etwa
40 ihrer segelnden Mitglieder versammelt, sie mit Tüten ausgerüstet. Und
mit einer klaren Mission auf einen kleinen Strandspaziergang rund um das
Minsener Oog geschickt: Sie sollen Plastikmüll sammeln.
Anderthalb Dutzend Boote liegen am Strand und fallen trocken, wenn Ebbe
ist. Im Sommer kommen auch manchmal Wattwanderer hierher. Nun krempeln die
SeglerInnen ihre Hosen hoch und waten durch 15 Grad frisches Wasser und
eine Minibrandung.
Die Insel, zwei Kilometer südöstlich von Wangerooge gelegen, ist ein altes
Buhnensystem aus Kaisers Zeiten. Noch heute gilt für einen Teil des
Minsener Oogs „Betreten verboten“. Die Nachbarschaft zur stark strömenden
Jade ist einer der Gründe für die starke Vermüllung des einstigen
Sandhakens. Strudel und Neerströme, langsam ins Watt fließende Tidenströme
und seichte Flutlinien – niemand kennt den Weg des Wassers genau. Fest
steht nur: Die Ablagerungen sind sehr müllreich und nicht nur der Minsener
Oog ist betroffen, sondern auch Wangerooge, die unbewohnte Insel Mellum auf
der anderen Jadeseite, und so weiter und so fort.
„Wenn Sie im Sand einen verschlossenen Plastik-Container finden: Nicht
aufdrehen und dran schnüffeln“, sagt Gerald Millat, der Chef des
Nationalparks Wattenmeer. „Es könnte das letzte gewesen sein, was ihre Nase
jemals gerochen hat.“ Müll zu sammeln ist gar nicht so harmlos, wie man
denken mag. „Und wenn da etwas aussieht wie eine alte Bombe: Liegen lassen,
vermelden und nicht dagegen kicken.“
Es ist die erste Aktion dieser Art von Soltwaters. Deren Vorsitzende Iris
Bornhold ist sonst mehr auf Versammlungen und politischem Parkett
unterwegs. Denn obwohl die ganze Aufräumerei mit Protest verwechselt werden
könnte, demonstriert sie doch nur, wie Menschen im und mit dem Watt zu
leben gedenken. Schließlich gibt es einen Nationalpark, behördlich
verwaltet, und allerlei Befahrensregelungen.
Doch es drohen Änderungen derselben, die bislang noch diffus sind, und in
der schwelenden Debatte darüber, wie diese konkret ausfallen sollten, führt
Soltwaters die Riege der gut Informierten an. Doch Brandreden sparen sie
sich auf dem Minsener Oog. Hier geht es um die Demonstration von
Kooperationsbereitschaft, eine Art Friedensmission also. Alle Spekulationen
um drastische Änderungen der Regeln für Wattfahrer bleiben deshalb außen
vor. Auch wenn Soltwaters mit den Behörde sonst auch gerne mal im Clinch
liegt. Stattdessen sollen weitere Aufräumaktionen folgen.
Die MüllsammlerInnen verstehen sich denn auch weniger als
UmweltaktivistInnen. Sie kommen als SeglerInnen aus den umliegenden
Vereinen, die neben ihren flachgehenden Booten an diesem Samstag auch
gleich Kinder und Enkel mitgebracht haben. Letztere bekommen übrigens
eigene Tüten. Und sammeln besonders energisch.
Über fünfeinhalb Kilometer lang ist ein Marsch um die Insel, an die sich im
Norden über Buhnensysteme weitere Sandbänke anschließen. Doch der für
Wanderer eher überschaubare Weg fördert am Ende insgesamt 17.835 Teile
zutage, die alle in die Sammelbeutel der TeilnehmerInnen und schließlich in
am Strand verteilte Big Bags wandern. Netze und Schnüre sind darin,
Plastikplanen und Kunststoff-fäden von Verpackungen. Vor allem aber
Abfälle, die der kommerziellen Schifffahrt zuzuordnen sind. Eine Studie der
Universität Oldenburg stützt diese These übrigens.
Die jadezugewandte Ostseite der Insel hält dabei mehr Müll parat als der
Westen des Minsener Oogs. Auch Reste von geplatzten Luftballons sind dabei
und eine Trauerschleife, aus Polyester: „In Liebe und Dankbarkeit“ steht
darauf. Dabei dürfen BestatterInnen bei Seebestattungen gar kein Polyester
zulassen. Den Höhepunkt der Müll-Inspektion bildet der Anblick verwaister
Eisenbahnschienen. Über und über sind sie mit bunten Netzresten behängt.
Und zwar so fest und unentwirrbar umwickelt, dass es viele Stunden,
schweres Gerät, Äxte, Messer und Sägen bräuchte, um das rostige Eisen auch
nur sichtbar zu machen.
Dennoch folgt hier keine Schimpftirade gegen die internationale
Plastikvermüllung. Jeder in der Runde weiß, dass ein Fitzelchen Plastik nur
schwer wieder aus der Welt zu schaffen ist, wenn es erst einmal existiert
und, gerade auf Weltmeeren, niemand für seine Entsorgung so richtig
zuständig ist.
Und so schwelt in den Ozeanen ein Riesenproblem. Das aber erstmal kaum
einen Menschen wirklich akut betrifft. Die örtliche Tierwelt indes schon,
denn altes Plastik ist wenig nahrhaft. „Wenn die Vögel anstelle ihrer
üblichen Nahrung buntes Plastik fressen, verhungern sie mit vollem Magen“,
sagt Millat. Und das kommt häufig vor, denn auch alt verliert buntes
Plastik wenig von seiner Farbe, das Federvieh stürzt sich darauf wie auf
bunte Angelköder. Apropos: Auch Angelköder sammeln sich hier – nur sind
noch Haken dran.
Hinzu kommt, dass sich Vögel in bunten Schnüren verheddern. Und ein
Mordsspektakel veranstalten, weil sie dann nicht mehr wegfliegen können.
Für andere Tiere bedeutet ein Mordsspektakel ja oft, dass es etwas zu holen
gibt. Von der Attraktion angelockt, flattern also andere Tiere herbei,
verheddern sich ebenfalls und verenden gemeinsam mit jenem Tier, das die
bunte Schnur als erstes gefunden hat.
Unter dem Minsener Oog gibt es, wie bei anderen ostfriesischen Inseln auch,
weitere Abfälle: eine sieben Meter starke Munitionsschicht. Nach dem
zweiten Weltkrieg waren die Inseln beliebtes Verklappungsgebiet. Und laut
dem Nationalparkgesetz sind unerlaubte Sprengungen im Watt bei Strafe
verboten. Auch, wenn vieles andere erlaubt ist.
Und ab hier streiten Behörden, PolitikerInnen, WissenschaftlerInnen,
Soltwaters und andere. Hier greifen Winkelzüge und es melden sich sogar
Traditionalisten zu Wort. Denn die Kleinschifffahrt im Watt, mit ihren
Ewern, Tjalken und Galeoten ist fast so uralt wie das Watt selbst.
Und es war und ist nicht nur ein schützenswertes Naturerbe, sondern auch
ein Verkehrsweg, für den der Staat also „Sicherheit und Leichtigkeit“ zu
garantieren hat, wie es im Gesetz heißt. Genau die sehen die
WattfahrerInnen gefährdet, wenn sie Kraft einer neuen Verordnung – so
vermuten sie – großflächig aus dem Watt verbannt werden sollen und nicht
mehr wie derzeit auf sichere und ruhige Wattflächen ausweichen oder ankern
können.
Beim abschließenden Palaver im Hafen des Nordsee-Heilbades Horumersiel an
der Jade offenbart sich ein Teil des Problems rund um den Plastikmüll. Weil
die goldene Abendsonne es bescheint. Eine ausgeprickte Rinne, an deren Rand
sich Robben aalen – trotz vorbeituckernder Segler. Daneben: Eine Phalanx
von auf den Weser-Jade-Port zustrebender Containerfrachter. Es sind zwei
Universen, in direkter Nachbarschaft.
22 Aug 2016
## AUTOREN
Matthias Beilken
## TAGS
Nordsee
Plastikmüll
Wattenmeer
Umweltverschmutzung
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