| # taz.de -- Matt Ross’ Indie-Film „Captain Fantastic“: Lange Haare und la… | |
| > „Captain Fantastic“ zeigt Viggo Mortensen als schrägen Öko-Streber. Der | |
| > Film will Zivilisationkritik üben – traut sich aber nur, Feel-Good zu | |
| > sein. | |
| Bild: Die Namen der Kinder sind selbtserfunden: Bodevan, Rellian, Zaia, Vespyr,… | |
| Der Lebensentwurf ist so unzeitgemäß, dass er schon wieder avantgardistisch | |
| daherkommt. „Zurück zur Natur“ – die Parole prägte einst Jean-Jacques | |
| Rousseau, seines Zeichens Aufklärer und früher Kritiker der | |
| Konsumgesellschaft. Als solcher fühlt sich offenbar auch Ben (Viggo | |
| Mortensen), der seine Kinder abgeschieden in der Wildnis des amerikanischen | |
| Nordwestens aufzieht. | |
| Mit den ersten Szenen von Matt Ross’ „Captain Fantastic“ glaubt man sich … | |
| einer Mischung aus Familienurlaubs- und Abenteuerfilm: Jungs und Mädchen, | |
| insgesamt sechs im Alter zwischen acht und achtzehn, toben da mit langen | |
| Haaren und teils mit langen Messern in Zeltlageratmosphäre herum. | |
| Doch dann wird klar, dass es sich eben doch um keinen Ferienfilm handelt: | |
| Abends am Lagerfeuer müssen die sechs Mathe repetieren oder zusammenfassen, | |
| was sie bei Dostojewski oder Nabokov gerade so gelesen haben. | |
| Zivilisationskritische Werke wie Jared Diamonds „Arm und Reich – Die | |
| Schicksale menschlicher Gesellschaften“ stehen ebenso auf dem Lektüreplan. | |
| Das freie Leben in den Wäldern besteht halt keineswegs nur aus „Spaß | |
| haben“. | |
| Auch physisch verlangt der sich zugleich antiautoritär gebende Vater seinen | |
| Kindern einiges ab: Der Älteste der Kinderschar, Bodevan (George MacKay), | |
| muss sein Mannestum mit der Jagd auf einen Hirsch beweisen, allein und nur | |
| mit einem Messer ausgerüstet. Wenig später stürzt beim gemeinsamen Klettern | |
| in einer Steilwand der mittlere Sohn Rellian (Nicholas Hamilton) fast ab. | |
| ## Links, Öko und Strebertum | |
| Der Vater, der einige Meter weiter und doch unerreichbar am Fels hängt, | |
| predigt in fast unheimlicher Ruhe die Überzeugung vom Gehirn als dem | |
| wertvollsten aller Survival-Organe: „S.T.O.P. – Stop, Think, Observe, | |
| Plan“. So angeleitet, findet Rellian fast widerwillig aus seiner Situation | |
| heraus. | |
| Wäre da nicht die bunte Individualität der Kinder, die sich in ihrer | |
| Kleidung, ihren unterschiedlich ausgeschmückten „Lagern“ und ihren | |
| ungewöhnlichen Namen ausdrückt, hätte man als Zuschauer wohl | |
| Schwierigkeiten, mit Ben und seiner Familie zu sympathisieren. | |
| Radikalen Erziehungsideen haftet stets der Ruch des Übergriffigen und | |
| Gleichmacherischen an. So mag man das Gesicht verziehen darüber, dass Ben | |
| und seine Frau Leslie mit Bodevan, Rellian, Zaia, Vespyr, Kielyr und Nai | |
| für jedes ihrer Kinder einen Namen eigens erfunden haben, um deren | |
| Einzigartigkeit in der Welt hervorzuheben. | |
| Aber die Betonung der Individualität ist genau das, was die gewagte | |
| Mischung aus Survivaltechniken und Bücherbildung, aus „Links“, „Öko“ … | |
| Strebertum, die Ben seinen Kindern übermitteln will, vor bloßer Ideologie | |
| rettet. Anders gesagt, deutet sich schon in den ersten Szenen an, dass es | |
| am Ende die Kinder sein werden, die ihrem Vater noch etwas beibringen. | |
| ## Ein Schulbus namens „Steve“ | |
| Es gibt noch einen anderen Hinweis darauf, dass das abgeschiedene Leben in | |
| den Wäldern kein reines Paradies ist: die Abwesenheit der Mutter. Mit der | |
| geradezu brutalen Ehrlichkeit, mit der Ben seine Kinder adressiert, egal | |
| wie alt sie sind, eröffnet er ihnen eines Abends, dass sie sich umgebracht | |
| hat. Die Kinder wussten Bescheid über ihre psychische Erkrankung, eine | |
| bipolare Störung, deren Behandlung in einer „herkömmlichen“ Institution B… | |
| schließlich zustimmen musste. | |
| Aber für die Trauerarbeit weiß er wieder eine zum Mainstream gegenläufige | |
| Auslegung: Er setzt die Kinder in den ausgebauten Schulbus namens „Steve“ | |
| und fährt mit ihnen nach New Mexico, um dafür zu sorgen, dass die Mutter | |
| wenigstens genau in der Weise beerdigt wird, wie sie es wollte. | |
| Die Fahrt schafft den Kontrast, der dem Film seinen Drive verleiht: Ben und | |
| seine Kinderschar stoßen auf die wirkliche Welt, auf das „greedy, corporate | |
| America“ mit seinem Konsumwahn, seiner Dummheit und seinen falschen | |
| Versprechen. Nun kommt auch die Familienparole zum Einsatz: „Power to the | |
| people, stick it to the man!“ – etwa einen Supermarkt um einige Waren zu | |
| erleichtern. | |
| Beim Zwischenstopp im Haus der Schwägerin, die selbst zwei Kinder hat, | |
| werden die Unterschiede noch humoristisch ins Bild gesetzt. Auf der einen | |
| Seite zwei dickliche „Gamer“-Nasen, die außer dem sturen Blick auf ihre | |
| Bildschirme kaum etwas wahrnehmen. Auf der anderen Seite die agilen | |
| Hippies, von denen selbst die jüngste mit ihren acht Jahren schon ein | |
| Spontanreferat über die „Bill of Rights“ halten kann. | |
| ## Heiße Hunde essen | |
| Die Weltfremdheit der Hinterwäldler sorgt für ein paar schöne Gags, etwa | |
| wenn Bodevan feststellt, dass auf der Menükarte „heiße Hunde“, eben Hot | |
| Dogs, angeboten werden, oder wenn Zaja fragt, was Coca Cola sei – | |
| „vergiftetes Wasser“, antwortet Ben. | |
| Aber es mehren sich auch die Vorfälle, die andeuten, dass Ben in seiner | |
| Erziehung doch vielleicht einiges übersehen hat. So macht Bodevan erste | |
| Erfahrungen mit Mädchen und muss feststellen, dass er ein „Freak“ ist, der | |
| „nichts weiß, was nicht in einem Buch steht!“ Und in der absehbaren | |
| Auseinandersetzung mit Schwiegervater Jack (Frank Langella), der Ben für | |
| den Tod der Tochter verantwortlich macht und mehr Struktur und Behütung im | |
| Leben seiner Enkel will, schlägt sich Sohn Rellian plötzlich auf dessen | |
| Seite. Als sich schließlich unter seiner Anleitung eines der Mädchen fast | |
| das Genick bricht, beginnt Ben seine Vaterrolle tatsächlich in Frage zu | |
| stellen. | |
| Allzu ernst nimmt der Film jedoch seine Konflikte nie – und genau das macht | |
| seinen besonderen Charme aus. Er spielt mit den ideologischen | |
| Versatzstücken, aber die Situationen, die er dafür schafft, verlassen nie | |
| wirklich das Reich des Feel-Good-Movie. Was in diesem Fall aber nicht | |
| unbedingt mit Seichtigkeit gleichzusetzen ist, denn mit dem | |
| „Feel-Good“-Gefühl transportiert Matt Ross in seinem Film eine durchaus | |
| subversive Botschaft. Die lautet ungefähr: Für das Wohl der Kinder kann | |
| auch die „richtigste“ Ideologie mal gebeugt werden. | |
| ## Die Mädchen bleiben unterbelichtet | |
| Regisseur Matt Ross ist im Hauptberuf Schauspieler; seine wohl bekannteste | |
| Rolle ist die von „Hooli“-Chef Gavin Belson in der TV-Serie „Silicon | |
| Valley“. Als Gavin spielt Ross die Karikatur eines neoliberalen, | |
| egozentrischen Tech-Unternehmers, der keine Ideale, nur Erfolgs- und | |
| Lifestyleparolen kennt. | |
| Mit Viggo Mortensen als Ben inszeniert er nun in seiner zweiten Regiearbeit | |
| das totale Gegenstück dazu. Es ist Mortensens Verdienst, dass der | |
| idealistische Ben nicht zur Karikatur verkommt: Mortensen zeigt, dass Ben | |
| zwar ideologische Scheuklappen hat, aber doch willig ist, die Realität | |
| dahinter zu sehen. Man glaubt ihm, dass er das Beste will für seine Kinder, | |
| auch wenn er sie überfordert. | |
| Das Drehbuch von „Captain Fantastic“ gibt leider nicht allen Kindern und | |
| Positionen den gleichen Spielraum, so stehen einmal mehr die Jungskonflikte | |
| im Vordergrund, während die der Mädchen unterbelichtet bleiben. Und sicher, | |
| wer die Kritik an der Konsumgesellschaft teilt und einen „Noam-Chomsky-Tag“ | |
| durchaus als Alternative zu Weihnachten betrachten würde, wird sich hier | |
| besser amüsieren als jemand, der es nahezu für gefährlich hält, mit einer | |
| Minderjährigen über Nabokovs „Lolita“ zu diskutieren. | |
| Feel-Good-Movie – das bedeutet auch, dass „Captain Fantastic“ am Ende | |
| Widersprüche auflöst, von denen wir alle wissen, dass sie so leicht nicht | |
| aufzulösen sind, von wegen richtiges Leben im falschen usw. Aber das Schöne | |
| an Matt Ross’ Film ist, dass er mit Macht an ein wie vergessenes Stück | |
| linker Utopie erinnert: den Glauben an die prinzipielle Hochbegabung aller | |
| Kinder, egal welche Eltern sie haben. | |
| 18 Aug 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Barbara Schweizerhof | |
| ## TAGS | |
| Menschheit | |
| Spielfilm | |
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