# taz.de -- Regisseur über Psychoanalyse-Kino: "Es geht alles ums Sprechen" | |
> Der Regisseur David Cronenberg spricht über seinen neuen Film "Eine | |
> dunkle Begierde". Darin erzählt er von den Anfängen der Psychoanalyse – | |
> ohne Horror. | |
Bild: Die wollen nur reden: Keira Knightley und Michael Fassbender in "Eine dun… | |
taz: Herr Cronenberg, waren die Schauspieler mit der Geschichte von Sabina | |
Spielrein vertraut? | |
David Cronenberg: Das glaube ich nicht. Natürlich hatten sie von Freud und | |
Jung gehört, aber nicht von Sabina, denn sie wurde überhaupt erst spät | |
bekannt. Jeder Schauspieler ist anders, manchen reicht das Drehbuch, andere | |
wollen in die Tiefe gehen. | |
Mit Viggo Mortensen habe ich 25 Mails ausgetauscht, in denen es einzig und | |
allein um Freuds Zigarren ging: Wie groß waren sie, welche Form hatten sie, | |
hat er den ganzen Tag über die gleiche Art Zigarre geraucht oder | |
unterschiedliche? Wie viel haben sie ihn gekostet? Das war notwendig, denn | |
Freud hat 22 Zigarren am Tag geraucht, also sieht man ihn im Film in so gut | |
wie jeder Szene mit einer Zigarre. | |
Sabina Spielrein litt als junge Frau an dem, was man damals Hysterie | |
nannte. Wie haben Sie mit Keira Knightley die Gestik und die Mimik | |
entwickelt? | |
Es steckt alles in der Recherche: Fotografien aus Charcots Klinikum zeigen, | |
wie verzerrt und selbstentstellend diese Gesten waren. Es gibt auch | |
Filmaufnahmen. | |
Von Charcots Patienten? | |
Nein, aber von anderen Patienten, und sie sind sehr verstörend. Und | |
außerdem gibt es Jungs Handschriften, auf 50 Seiten beschreibt er Sabinas | |
Symptome. | |
Dass sie den Unterkiefer vor- und den Oberkiefer zurückschiebt, hat Jung | |
beschrieben? | |
Ganz so konkret war er nicht. Aber er beschreibt ihr Gesicht als von | |
nervösen Zuckungen befallen. Und ich sagte zu Keira: Es geht hier alles ums | |
Sprechen. Du sagst Dinge, die unaussprechbar sind. Eine junge Frau aus | |
einer wohlhabenden Bürgerfamilie würde nie und nimmer über Masturbation | |
sprechen oder darüber, dass die Schläge des Vaters sie sexuell erregen. Und | |
nun ist da dieser Arzt, ein Mann, der dich darum bittet, über diese Dinge | |
zu sprechen, und du willst darüber sprechen, aber zugleich hast du Angst. | |
Ein Teil von dir spricht, der andere hält die Wörter zurück, entstellt sie, | |
damit man sie nicht verstehen kann. | |
An einer Stelle spricht sie von einer furchterregenden nächtlichen Vision: | |
Sie spürt die Anwesenheit eines Wesens im Zimmer, es reibt sich an ihrem | |
Rücken, ein Weichtier … | |
… ein schleimiges Weichtier … | |
In einem Ihrer früheren Filme hätten wir das Weichtier gesehen, hier sehen | |
wir es nicht. | |
Ich höre auf das, was der Film von mir will, und dieser Film handelt vom | |
Reden. Der ganze Film kreist um Wörter und um Sprache. Das ist ja das Wesen | |
der Psychoanalyse: Es gab keine bildliche Darstellung des schleimigen | |
Weichtiers, es gab die Wörter Sabinas und ihre Körpersprache. | |
Der französische Filmer André S. Labarthe hat einen Porträtfilm von Ihnen | |
gedreht, der "I Have to Make the Word Be Flesh" hieß. Müsste es jetzt "I | |
Have to Make the Flesh Be Word" heißen? | |
Das können Sie so sagen, aber schauen Sie sich Keiras Gesicht an! Die | |
Schauspielerin macht aus dem Wort Fleisch. Keira war diesmal mein | |
Spezialeffekt. | |
Was genau muss denn passieren, damit etwas Unaussprechliches aussprechbar | |
wird? | |
Es hängt damit zusammen, dass man die Erlaubnis zu sprechen erhält. Man | |
wird aus seinem gewöhnlichen Umfeld herausgelöst, in einen neutralen Raum | |
versetzt, und dort sitzt man einem Fremden gegenüber, dem Analytiker. Der | |
sagt: Wir sind hier in einem sicheren Raum, ich werde Sie nicht kritisieren | |
und nicht anklagen. Das ist das Wesen der Psychoanalyse, aber es war | |
zugleich schockierend, und niemand hatte je daran gedacht. Nicht mal in | |
Burghölzli, einer avancierten Institution - die eine Sache, die sie dort | |
nicht taten, war, ihren Patienten zuzuhören. Warum sollten sie auch, sie | |
waren ja verrückt. | |
Und Freud sagte: Falsch, genau das, was die Patienten sagen, ist der | |
Schlüssel zu ihrer Gesundheit. Auf eine gewisse Weise ist es das, was ich | |
am Set mache: eine sichere Atmosphäre herstellen, in der die Schauspieler | |
experimentieren können, ohne dass ich über sie urteile. | |
Während Sie Regie führen, sehen Sie sich in der Position des … | |
… Analytikers? Nur in dieser einen Hinsicht. Offenbar gibt es Regisseure, | |
die ihre Schauspieler einer Analyse unterziehen, die mit ihnen über ihre | |
Mutter und ihre Träume reden wollen, das wurde mir zumindest erzählt. Ich | |
glaube, das kommt aus dem Actors Studio. Mir erscheint das lächerlich. Ein | |
professioneller Schauspieler kennt sich selbst, er weiß, wie er arbeitet | |
und wo er die Emotionen herholt. | |
Ihr Film spielt in einer Zeit, in der sich nicht nur in der materiellen | |
Welt, sondern auch in der Welt der Ideen vieles ändert. Das Aufkommen der | |
Psychoanalyse ist ein wichtiger Faktor innerhalb dieser Veränderungen. Ich | |
hatte den Eindruck, dass es Ihrem Film gut gelingt, diese abstrakteren | |
Veränderungen zu vermitteln. Wie haben Sie das gemacht? | |
Ich habe den Film für sich sprechen lassen, habe mich ihm fast wie einer | |
Dokumentation genähert. Sicherlich, den Raum und die Atmosphäre habe ich | |
hergestellt, aber wie ich es dann filme, ist wie in einem Dokumentarfilm. | |
Der Film wirkt auch deshalb modern, weil Freud, Jung und Sabina in gewisser | |
Weise moderne Beziehungen erfinden. Sie reden über Dinge, über die wir | |
heute auch reden, nur hat eben damals niemand darüber geredet. Die Briefe | |
zwischen Freud und Jung etwa sind sehr intim. Dass zwei angesehene Männer | |
aus dem Bürgertum sich über Körperflüssigkeiten und erotische Träume | |
austauschen, war damals undenkbar. Und dann brachte Sabina noch die | |
weibliche Perspektive ein. | |
Der Film kam mir fast feministisch vor. | |
Ich weiß, dass viele Feministinnen Freud kritisieren, weil er patriarchal | |
war. Aber es gab viele Frauen, die Psychoanalytikerinnen wurden, Lou Salomé | |
allein würde einen Film tragen, Sabina Spielrein, Toni Wolff, Emma Jung. | |
Die psychoanalytische Bewegung mochte patriarchal strukturiert sein, aber | |
sie akzeptierte, dass Frauen intellektuell sein und ihren Beitrag leisten | |
konnten. Ihre Beteiligung wurde auch nicht so ausgelegt, dass durch sie die | |
Bedeutung der psychoanalytischen Bewegung geschmälert worden wäre, was in | |
anderen Berufszweigen damals gang und gäbe war. | |
Ist es nicht ambivalenter? Immerhin wurde Spielreins Wirken vergessen, und | |
dann ist da noch die Kontroverse, die am Anfang von Freuds Karriere stand. | |
Er sprach mit Frauen aus dem Wiener Bürgertum, eine erschreckend hohe Zahl | |
dieser Frauen berichtet von Missbrauch in der Familie, er veröffentlichte | |
eine Studie darüber und wurde dann mehr oder weniger dazu gedrängt, diese | |
Ergebnisse fallen zu lassen. | |
Ich glaube nicht, dass das so stimmt. Zu seiner großen Überraschung | |
entdeckte Freud viele Fälle sexuellen Missbrauchs, aber nicht nur an | |
Frauen, auch an Jungen. Er versuchte aber zugleich, eine allgemeine Theorie | |
zu etablieren, die auf jedermann anwendbar wäre. Und er konnte nicht mit | |
Fug und Recht behaupten, dass jede Neurose von einem sexuellen Missbrauch | |
herrühren würde. Das hätte ja bedeutet, dass jeder als Kind missbraucht | |
worden wäre. Deswegen hat er die These fallen gelassen. | |
Mir ist klar, dass er dafür kritisiert wurde und dass der Verdacht aufkam, | |
er sei dazu gedrängt worden, die Untersuchungsergebnisse fallen zu lassen. | |
Aber Freud war mächtig, er hatte keine Angst, über diese schrecklichen | |
Dinge zu sprechen. Inzest nur zu erwähnen bedeutete doch schon, dass er den | |
Geist aus der Flasche gelassen hatte. | |
4 Nov 2011 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
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Film | |
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