| # taz.de -- Putschversuch in der Türkei: Totenstille und Kriegslärm | |
| > Als der Putsch droht, sind sich alle politischen Lager plötzlich einig. | |
| > Protokoll einer Nacht, in der alles möglich schien. | |
| Bild: Ein Anhänger des Präsidenten ruht sich nach einer langen Nacht aus | |
| Istanbul taz | Man kennt es. Aus so vielen türkischen Filmen und Romanen. | |
| Aus Erzählungen von Zeitzeugen. Und doch ist es erschreckend befremdlich, | |
| wenn es passiert: In der Nacht zum Samstag, kurz nach Mitternacht, verliest | |
| die Nachrichtensprecherin des staatlichen TV-Senders TRT mit eiskalter | |
| Miene die Erklärung eines „Friedensrats“. | |
| Er gibt vor, im Namen des türkischen Militärs zu agieren. Er sieht sich von | |
| nun an verantwortlich für den Sender, für die gesamte türkische Republik. | |
| Er entmachtet eine „autokratische Regierung“, die „die demokratische und | |
| laizistische Justiz vollkommen abgeschafft hat“. Bilder, die an ein | |
| kollektives Trauma appellieren. Die dunklen Jahre des Militärregimes. Nach | |
| 1960, nach 1980. Es scheint offiziell. Ein Putsch. Schon wieder. | |
| Oder doch eher ein Putschversuch? Gar ein fingierter? | |
| Es fällt schwer, es zu benennen. In einem Land, dessen politisches | |
| Geschehen nur über Verschwörungstheorien diskutiert wird, kommt man nicht | |
| umhin, alles zu hinterfragen. Alles. Wir sitzen zuhause vor dem Fernseher | |
| und bleiben dort. Wer zufällig draußen ist, besorgt noch schnell ein paar | |
| Lebensmittel oder reizt seinen Dispo am Bankautomaten aus. Die | |
| Ausgangssperre wird ausgerufen, ab 6 Uhr darf keiner raus. Alle Cafés und | |
| Bars des jungen Studentenviertels von Istanbul-Kadiköy haben innerhalb von | |
| fünf Minuten dicht gemacht. Auf der Straße ist keine Seele, nur ein junges | |
| Paar auf der vergeblichen Suche nach einem Taxi. | |
| ## Vorsichtige Wortwahl | |
| Doch schon vor der militärischen Übernahme des Staatsfernsehens gibt es | |
| erste Indizien für einen Ausnahmezustand. Das französische Konsulat in | |
| Istanbul schließt am 13. Juli – auf unbestimmte Zeit. Am frühen | |
| Freitagabend fliegen Militärhubschrauber ungewöhnlich niedrig über den | |
| Dächern zentraler Wohngegenden. Und dann folgt die Nachricht, dass beide | |
| Bosporusbrücken, die Hauptschlagadern des Metropolenverkehrs, vom Militär | |
| blockiert wurden. Die ersten Nachrichten kommen aus Deutschland, in Form | |
| von SMS von Freunden. „Ist alles okay bei dir?“ Twitter und Facebook sind | |
| down, im türkischen Fernsehen rätselt man über Militärpanzer an allen | |
| Verkehrsknotenpunkten, öffentlichen Plätzen und Flughäfen von Istanbul und | |
| Ankara. | |
| Das Vokabular wählt man mit großer Vorsicht. Einen Regierungssprecher kann | |
| keiner erreichen. In einer knappen Erklärung heißt es nur: „Dies ist nur | |
| ein Versuch. Und hinter ihm steckt nur eine kleine Randgruppe des Militärs. | |
| Sie werden dafür bezahlen.“ Die Nachrichten beten diese Sätze hoch und | |
| runter. Bis die TRT-Sprecherin sich räuspert und liest. | |
| Wir hören Schüsse. Wir hören Explosionen. Das Zischen von Kampfjets wird | |
| lauter und dauert eine gefühlte halbe Stunde an. Das Fenster vibriert. Es | |
| ist ein Nebeneinander von Totenstille und Kriegslärm im Herzen der | |
| 14-Millionen-Stadt. Heute Nacht ist alles möglich, schießt es vielen durch | |
| den Kopf. Aber es ist kein hoffnungsvoller Moment. „Für wen bist du?“ | |
| fragen Freunde auf Whatsapp. Darauf gibt es keine Antwort. Es ist wie | |
| Cholera gegen Pest. | |
| ## Distanz zu Putschisten | |
| Die Türkei befindet sich seit gut einem Jahr in einer tiefen politischen | |
| und gesellschaftlichen Krise. Es herrschen bürgerkriegsähnliche Zustände in | |
| den kurdischen Gebieten. Die islamistischen Anschläge an öffentlichen | |
| Orten, zuletzt am Flughafen Istanbul Atatürk, häufen sich. Die | |
| Putsch-Erklärung des „Friedensrats“ bezieht sich auf all das. Und auch auf | |
| die Missachtung der Menschenrechte. Auf die Fehler der Regierung in | |
| wirtschaftlichen und außenpolitischen Fragen. Die Anschlagsopfer. Die | |
| ungeahndeten Korruptionsfälle. Im Prinzip sind alle Kritikpunkte, die | |
| Oppositionelle Tag für Tag verzweifelt zur Sprache bringen, aufgelistet. | |
| Allein: die Oppositionsparteien distanzieren sich von den Putschisten. | |
| Es trifft eine Presseerklärung nach der anderen ein. Von den rechten | |
| Nationalisten bis hin zu den Kemalisten und den kurdischen Linken: Kein | |
| Lager erkennt die Militärregierung an. Auch TÜSIAD, die mächtigste | |
| Vereinigung türkischer Industrieller, distanziert sich. Alle sind sich | |
| einig: Es müsse eine demokratische Lösung geben. Auch wenn der Gegner | |
| Antidemokrat ist. | |
| Die große Frage des Abends lautet: Wo steckt Erdoğan? Auch hier hagelt es | |
| Verschwörungen ohne Ende: Er sei auf dem Weg zum Flughafen, meldet NBC | |
| News, und habe Asyl in Deutschland beantragt. Es gibt sehr viel Zeit für | |
| Spekulationen. Der ansonsten so gar nicht kamerascheue Präsident lässt sich | |
| nach den ersten Meldungen fast zweieinhalb Stunden Zeit, bis er spricht. | |
| Aber als er es tut, verändert sich alles. | |
| Kurz nach halb eins hält eine CNN-Türk-Moderatorin ihr iPhone in die | |
| Kamera. Der türkische Präsident spricht über Facetime, aus dem Urlaubsort | |
| Marmaris. Die Putschisten seien eine vom islamischen Prediger und | |
| Erdoğan-Gegner Fetullah Gülen angestachelte Randgruppe, erklärt er. „Ich | |
| fordere alle Bürger dazu auf, auf die Straßen zu gehen, und unsere | |
| Demokratie zu verteidigen.“ Volk gegen Militär? Der Schock sitzt tief. Vor | |
| allem aber schockiert, dass Erdoğan, der seit den Gezi-Aufständen | |
| ausnahmslos jeden Demonstranten zum Terroristen erklärt, ganz plötzlich die | |
| Straße als Ort der Demokratie entdeckt. | |
| ## Kommunikation der Minarette | |
| Nur wenige Minuten später: Live-Bilder aus Ankara von jungen Männern, die | |
| auf Panzer steigen. Sie wedeln mit türkischen Fahnen, recken ihre Hände in | |
| die Luft, um das Symbol der Grauen Wölfe zu zeigen. Der Generalstabschef | |
| distanziert sich von den Putschisten. Von allen Moscheen werden Durchsagen | |
| gemacht. In manchen Orten auf kurdisch. „Geht auf die Straße, in Gottes | |
| Namen.“ Und es passiert. Nicht vor unserer Tür, nicht in Kadiköy, aber im | |
| Fernsehen. Irgendwo in Ankara. Irgendwo in Istanbul. | |
| Angesichts der mächtigen Kommunikationswege über den religiösen Apparat, | |
| scheint die Übernahme von TRT im Rückblick fast lächerlich. Zivilisten | |
| marschieren in den noch vor wenigen Minuten vom Militär besetzten Flughafen | |
| ein und rufen „Allahu Akhbar“, „Gott ist groß“. Von da an geht alles g… | |
| schnell. Wenig später hören wir Autokorsos. | |
| Die ganze Nacht über schallt aus allen Moscheelautsprechern des Landes das | |
| Sala-Gebet. Es hält die Bevölkerung wach. Das Parlament in Ankara wird | |
| bombardiert. Erdoğan wird indessen am Flughafen Atatürk von einer jubelnden | |
| Menge als großer Held gefeiert, der sein Volk vor dem Militärregime bewahrt | |
| hat. Als die Sonne aufgeht, hat sich ein Großteil der Putschisten ergeben. | |
| Es kursieren Handyvideos, auf denen einige Menschen öffentlich gefoltert | |
| und gelyncht werden. Von Zivilsten, so scheint es. Über 1.500 Festnahmen | |
| gibt es bereits am Morgen. In den türkischen Mainstreammedien wird von 161 | |
| Toten gesprochen, aber mindestens 160 exekutierte Putschisten kommen hinzu. | |
| Eine lange Nacht in Istanbul geht zu Ende, schlaflos und blutig. | |
| 16 Jul 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Fatma Aydemir | |
| Samil Sarikaya | |
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