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# taz.de -- Kolumne Gott und die Welt: Erdoğan und die Rothschilds
> Die Türkei ist ein Land mit Paranoia. Angestrengtes Googeln zeigt, auch
> bei der Mutter aller Verschwörungstheorien wird man fündig.
Bild: Der Staatsgründer und der aktuelle Präsident sind Kryptojuden? Was die …
Nein, eine wütende oder auch nur ressentimentgeladene Antisemitin war sie
gewiss nicht, die nette junge Frau, die sich ungebeten vom Nachbartisch aus
in unser Gespräch – es fand in einem sommerlichen Berliner Gartenlokal
statt – einmischte. Vielmehr wandte sie sich in einem durchaus
aufklärerischen Gestus an uns, die wir über die Lage in der Türkei
diskutierten.
„Wussten Sie denn nicht“, so fragte sie ganz unaufgeregt in unsere Runde
hinein „wussten Sie denn nicht, dass Erdoğan Jude ist? Ich bin zwar“, so
fuhr sie fort, „Türkin und gewiss keine Antisemitin, aber es ist doch eine
Tatsache, dass Erdoğan kürzlich mit dem Staat Israel einen Deal gemacht
hat, außerdem haben doch die Rothschilds dort nach wie vor großen Einfluss
…“
Nachdem wir heftig auf sie eingeredet hatten, kam die Debatte zum Erliegen,
doch ließ mir die Sache keine Ruhe. Und tatsächlich: Angestrengtes Googeln
förderte paranoide Websites zutage, die das, was unsere Kneipennachbarin
vorzubringen hatte, ebenfalls behaupteten.
So unterstellt etwa ITCW, „Inspire to change world“, dass Erdoğan „Jude�…
sei, weitere Recherchen – sogar in seriösen Büchern, etwa Marc David Baers
Studie von 2010 über die Dönme, eine sabbatianische Sekte von Kryptojuden –
bestätigen die Existenz dieses Gerüchts. So heißt es im Vorwort zu Baers
Buch: „Many Turkish secularists believe that Prime Minister Erdogan is a
crypto-Jew working to undermine Turkey’s secular order.“
Ohnehin scheint diese bis etwa 1920 nachweisbare Sekte das (Un)gedachte –
oder jedenfalls (Un)geäußerte – der aktuellen Auseinandersetzungen in der
Türkei zu sein, was inzwischen auch dem Berliner Tagesspiegel aufgefallen
ist. So brachte diese Tageszeitung Ende vergangener Woche eine große
Fotografie einer Demonstration aus Istanbul – auf ihr war ein Mann zu
sehen, der ein Transparent hochhielt.
## Atatürk, war er heimlicher Armenier?
Das Transparent zeigte Fethullah Gülen, den angeblichen Erzfeind Erdoğans,
vor einer US-amerikanischen Flagge, untertitelt war das Transparent mit den
Worten: „Dog of Zionism“. Wie stets bei Verfolgungswahn wird jedoch auch
das Gegenteil für wahr gehalten – was wiederum dem Tagesspiegel auffiel: In
einem Beitrag zum Gründer der türkischen Republik, zu Mustafa Kemal,
genannt Atatürk, war zu lesen, dass der 1881 geborene Mustafa Kemal im
alten Thessaloniki aufgewachsen war und er blond und blauäugig gewesen sei.
„Bis heute“, so der Autor des Beitrags, Björn Rosen, „halten sich Gerüc…
war er slawischer Abstammung? Heimlicher Armenier? Oder gehörte er – eine
antisemitisch gefärbte Theorie – zu den Dönme, den zum Islam konvertierten
Juden?“
Wiederum gilt, wie bei vielen Gerüchten: Irgendetwas scheint dran zu sein.
Im Juli des Jahres 2007 jedenfalls berichtete der Autor Hillel Halkin in
der New York Sun davon, dass er einige Jahre zuvor einen Artikel auf der
Basis der Autobiografie eines längst vergessenen hebräischsprachigen
Journalisten, Itamar Ben-Avis, verfasst hatte. War doch in dessen
Autobiografie von einer Begegnung zu lesen, die der Verfasser 1911 in einem
Jerusalemer Hotel hatte. Von zu viel Arak benebelt, habe ihm ein junger
türkische Offizier Bruchstücke aus dem jüdischen Gebet „Höre Israel“
vorgetragen. Zehn Jahre später – so Ben-Avi – sei ihm beim Lesen einer
Zeitung, die vom Militärputsch Atatürks mit Bild berichtete, klar geworden,
dass der Offizier aus Jerusalem kein anderer als der Gründer der türkischen
Republik war.
Die Kryptojuden als das (Un-)Gedachte oder jedenfalls (Un-)Gesagte der
türkischen Politik? Tatsächlich ist diese kaum zu verstehen, wenn man nicht
zur Kenntnis nimmt, dass wesentliche Akteure des politischen Diskurses in
diesem der Nato zugehörigen Land ihre Entscheidungen auf der Basis
derartiger Verschwörungstheorien treffen.
Die immer wieder zu lesende Gegenüberstellung von Atatürk und Erdoğan
geschieht daher mit einem gewissen Recht: So wie jener aus den anatolischen
Resten des osmanischen Reiches einen autoritären säkularen Nationalstaat
formen wollte, will dieser – mit zeitgemäßen, „demokratischen“ Mitteln …
die Türkei reislamisieren. Säkularisten wie Islamisten unterstellen ihrem
jeweiligen Feind, ein Kryptojude zu sein. Eine erstaunliche Fernwirkung,
die dem Begründer des Sabbatianismus, dem im 17. Jahrhundert vom Judentum
zum Islam übergetretenen Messias Schabbtai Zvida zugeschrieben wird.
1 Aug 2016
## AUTOREN
Micha Brumlik
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