# taz.de -- Putsch-Historie der Türkei: Wenn die Panzer rollen | |
> 1960, 1971, 1980: Politische Umstürze durch das Militär haben in der | |
> Türkei eine gewisse Tradition. Die Streitkräfte verstehen sich als Hüter | |
> des Kemalismus. | |
Bild: Zuletzt putschte das türkische Militär im September 1980 | |
BERLIN taz | Noch sind viele der Fragen ungeklärt, die die bewaffnete | |
Intervention von Militärs in der Türkei am Freitagabend aufgeworfen hat. | |
Dass türkische Offiziere und Soldaten die Regierung des Despoten Reccep | |
Tayyip Erdoğan auf diese Weise attackieren würde, kam überraschend. Was in | |
der Türkei jedoch nicht neu ist: Dass der Militärapparat in die Politik | |
eingreift. Er hat sich als Hüter eines heiligen Prinzips verstanden. Des | |
Kemalismus, die Gründungsideologie des türkischen Staats, begründet 1923 | |
von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk, der noch heute von großen Teilen | |
der Bevölkerung verehrt wird. | |
Kemalismus, das ist vor allem das Bekenntnis zur Trennung von Religion und | |
Staat, gepaart mit einem starken Nationalismus, der geschichtlich auch die | |
teils unerbittliche Grundlage für die Unterdrückung von Minderheiten | |
darstellte, wie etwa der Aleviten oder der kurdischen Bevölkerung im | |
Südosten des Landes, die bis heute um ihre Eigenständigkeit kämpft – die | |
aber im Kemalismus nur eine Antwort erhielt: Dass es seit Atatürk innerhalb | |
der Landesgrenzen nur noch Türken gab und zu geben habe. Es ist diese | |
Ideologie, die bis heute als schärfste Kontrastfolie für die | |
gesellschaftlichen Konflikte in der Türkei her hielt. Und oft war es das | |
Militär, das allzu große Abweichungen von dieser Staatsdoktrin verhinderte. | |
Auch wenn die Details des noch laufenden Putschversuches nicht | |
ausgeleuchtet sind: Dieser Hintergrund hilft auch, den aktuellen Konflikt | |
zu verstehen. Denn als vermeintlicher Erbwalter des in weiten Teilen der | |
Bevölkerung verehrten Atatürk, hat sich das Militär auch in der | |
Vergangenheit immer wieder als eine Art überkonstitutionellen Garanten des | |
Gründungsmythos der Türkei in Szene gesetzt – und diese Position teils auch | |
mit Waffengewalt behauptet. | |
1960, 1971, 1980: Fast schon in regelmäßigen Abständen intervenierte das | |
Militär, stets vor dem Hintergrund massiver gesellschaftlicher Konflikte, | |
in die inneren politischen Angelegenheiten des Landes. Während der | |
Militärdiktatur nach dem Staatsstreich von 1980 agierte die Junta äußerst | |
brutal. | |
## Überraschend, aber nicht ohne Vorgeschichte | |
Das Militär putschte nicht nur, wesentlich öfter spielte es eine Rolle bei | |
der Neuordnung des Landes und seiner staatlichen Institutionen, etwa im | |
Februar 1997, als es die türkische Regierung in einem Memorandum zu einer | |
Rückbesinnung auf kemalistische Prinzipien drängte. Die Generäle hatten der | |
Regierung 18 Forderungen präsentiert und einen „ultimativen | |
Realisierungsbefehl“ ausgesprochen. Darin ging es etwa darum, den Einfluss | |
der Islam-Schulen sowie den Einfluss des Islam auf staatliche Institutionen | |
und die türkische Gesellschaft zu schmälern. In der Folge, vier Monate | |
später, zerbrach die damalige Regierung unter Necmettin Erbakan. | |
Dass es heute, 2016, noch einmal zu einer Putschsituation kommen könnte, | |
hatte zwar niemand erwartet, könnte aber zumindest vor diesem Hintergrund | |
gedeutet werden. | |
Denn Recep Tayyip Erdoğan war mit Beginn seiner Regierungszeit im Jahr 2003 | |
ein erklärter Gegenkandidat zum Modell des teils radikalen Kemalismus. | |
Dieser hatte zu stark nationalistischen Formen gefunden, wurde von | |
autoritären Zirkeln verteidigt und war zur ideologischen Klammer eines | |
„tiefen Staates“ geworden. „Tiefer Staat“, der Begriff meint Geheimbün… | |
und Verschwörer innerhalb von Polizei und Justiz, Geheimdiensten und | |
Militär. Immer wieder gab es aus diesen Kreisen heraus gezielte Angriffe | |
und auch Mordanschläge auf politisch Andersdenkende. | |
## Machterhalt vor Liberalismus | |
Dass Erdoğan mit Beginn seiner Regierungszeit dagegen vorgehen wollte, | |
wurde deshalb anfangs auch und gerade unter den Liberalen in Westeuropa als | |
Zeichen für eine mögliche Öffnung der Türkei gesehen. Ihr Bild war das | |
eines Landes, in dem, aus der muslimischen Mehrheitsgesellschaft heraus | |
eine Demokratisierung der staatlichen Institutionen betrieben werden | |
konnte. | |
Erdoğan legte tatsächlich Hand an die staatlichen Institutionen an, | |
reformierte zunächst dezent, dann aber in zunehmendem Maße immer | |
autoritärer. Zum Machterhalt wechselte er aus dem Amt des | |
Ministerpräsidenten 2014 ins Präsidentenamt. Inzwischen geht er offen und | |
unverhohlen gegen Andersdenkende vor, lässt Zeitungsredaktionen stürmen, | |
deren Chefredaktionen neu besetzen und überzieht Journalisten sowie | |
politische Gegner mit Repression und Klagen. | |
Einerseits hat Erdoğan sich mit diesem Autoritarismus in den letzten Jahren | |
international eine souveräne Position erarbeitet. Er genoss in Teilen der | |
zunehmend gespaltenen türkischen Bevölkerung bis zuletzt noch großen | |
Rückhalt. Andererseits werden sowohl die inneren wie auch die äußeren | |
Spannungen, denen die Türkei ausgesetzt ist, immer offensichtlicher. | |
Um nur zwei Beispiele zu nennen: Der Abschuss eines russischen | |
Militärflugzeugs. Und nun zuletzt der absurde Streit zwischen den | |
Nato-Verbündeten Türkei und Deutschland, ob deutsche Politiker in der | |
Türkei stationierte Truppen besuchen dürfen. Eine politische Lächerlichkeit | |
der Sonderklasse, die allen Ernstes zur Belastung deutsch-türkischer | |
Regierungsgespräche wurde. | |
## Gülen als Sündenbock | |
Welche politischen Flügel genau innerhalb des Militärs diesen Putschversuch | |
führten, das lässt sich noch nicht sagen. Denn anders als noch zum | |
Amtsantritt Erdoğans, ist auch das Militär inzwischen wesentlich | |
heterogener aufgestellt. | |
Erdoğan selbst erklärt seinen einstigen Verbündeten und heutigen Erzfeind | |
Fethullah Gülen zum Beteiligten an dem Putschversuch. Der 75 Jahre alte | |
Gülen ist ein in den USA im Exil lebender muslimischer Prediger, der mit | |
seiner einflussreichen und sektenähnlichen Bewegung seit Jahren die | |
Ablösung Erdoğans betreibt und anstrebt. Die Gülen-Bewegung Hizmet wurde in | |
der Türkei zur Terrororganisation erklärt, viele ihrer Köpfe stehen auf | |
einer Liste der meistgesuchten Terroristen. Erdoğan bezichtigt Gülen schon | |
lange, ihn mit Gefolgsleuten aus Justiz und Militär stürzen zu wollen. Und | |
natürlich klagt er jetzt beide an. | |
Gülen und kemalistische Militärs – was beide Strömungen eint, ist der Hass | |
auf Erdoğan. Ob und inwiefern die beiden Strömungen allerdings | |
gemeinschaftlich tätig wurden, dies ist zum jetzigen Zeitpunkt noch | |
Spekulation. Gesichert scheint, dass nur Teile des Militärs den | |
Putschversuch unternommen haben – und diese auch auf Widerstand in den | |
eigenen Reihen gestoßen waren. | |
Der amtierende Generalstabschef Ümit Dündar sagte in einer am Samstag vom | |
TV-Sender CNN Türk übertragenen Erklärung, die Streitkräfte seien | |
entschlossen, Mitglieder einer „Parallel-Struktur“ zu entfernen. So werden | |
Anhänger der Gülen-Bewegung bezeichnet. Erdoğan selbst hat eine „Säuberun… | |
der Armee angekündigt: „Dieser Aufstand ist für uns eine Gabe Gottes, denn | |
er liefert uns den Grund, unsere Armee zu säubern.“ | |
16 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Martin Kaul | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Türkei | |
Recep Tayyip Erdoğan | |
Militärputsch | |
Fethullah Gülen | |
Schwerpunkt Türkei | |
Schwerpunkt Türkei | |
Schwerpunkt Türkei | |
Schwerpunkt Türkei | |
Schwerpunkt Türkei | |
Schwerpunkt Türkei | |
Schwerpunkt Türkei | |
Schwerpunkt Türkei | |
Schwerpunkt Türkei | |
Schwerpunkt Türkei | |
Recep Tayyip Erdoğan | |
Schwerpunkt Türkei | |
Schwerpunkt Türkei | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Regeln für einen politischen Umsturz: Wie man richtig putscht | |
Bitte nicht im Berufsverkehr! Staatsfernsehen reicht nicht! Ein | |
Staatsstreich will gut vorbereitet sein. Zehn goldene Regeln, die zum | |
Erfolg führen. | |
Geflüchtete Türken in Griechenland: Acht Offiziere dürfen erstmal bleiben | |
Die Offiziere werden nicht ausgeliefert, solange ihre Asylanträge geprüft | |
werden. Sie wurden aber wegen illegaler Einreise verurteilt. | |
Ägyptische Medien über die Türkei: „Das ist kein Militärputsch“ | |
Medien in Ägypten feierten den Umsturzversuch in der Türkei verfrüht als | |
„Revolution“. In Kairo hatte das Militär 2013 erfolgreich die Macht | |
übernommen. | |
Konflikt zwischen Türkei und USA: Schroffer Ton unter Nato-Freunden | |
Nach dem Putschversuch in der Türkei wachsen die Spannungen zwischen Ankara | |
und Washington. Der lachende Dritte ist der IS. | |
Nach dem Putschversuch in der Türkei: Säuberungsaktion geht weiter | |
In der Nacht strömten Tausende auf die Straßen, um Erdogan ihre | |
Unterstützung zuzusagen. Der denkt indes über die Einführung der | |
Todesstrafe nach. | |
Kommentar Putschversuch in der Türkei: Phoenix aus der Asche | |
Die Möchtegern-Putschisten haben Erdoğan einen nachhaltigen Erfolg | |
beschert. So kann er seinen Mythos des unbesiegbaren Osmanen nähren. | |
Die Türkei am Tag danach: Ein Putschversuch, viele Fragen | |
So desorientiert sich die Putschisten verhielten, so genau weiß die | |
Regierung, was zu tun ist. Nur gegen die Gerüchte über das Geschehen kann | |
sie nichts tun. | |
Reaktion der Erdoğan-Regierung: Über 2.500 türkische Richter entlassen | |
Nach dem Putsch beginnt das Aufräumen. Laut Berichten wurden zehn | |
Mitglieder des türkischen Staatsrats festgenommen. 2.745 Richter wurden | |
entlassen. | |
Putschversuch in der Türkei: Totenstille und Kriegslärm | |
Als der Putsch droht, sind sich alle politischen Lager plötzlich einig. | |
Protokoll einer Nacht, in der alles möglich schien. | |
Internationale Reaktionen: Schulterschluss mit Leerstelle | |
Politiker aus aller Welt stellen sich an die Seite der Demokratie in der | |
Türkei. Der Name Erdoğan fällt in den Solidaritätsadressen allerdings | |
nicht. | |
Putschversuch in der Türkei: Eine dramatische Nacht | |
Der Umsturzversuch ist gescheitert, es gab über 200 Tote und knapp 3.000 | |
Festnahmen. Präsident Erdoğan kündigt ein hartes Vorgehen an. | |
Putschversuch des türkischen Militärs: Mindestens 60 Tote | |
Die türkische Regierung erklärt, die Lage unter Kontrolle zu haben. | |
Hunderte Militärs werden verhaftet. Bei Zusammenstößen sterben viele | |
Menschen. | |
Putschversuch in der Türkei: Ringen um die Macht über die Armee | |
Teile des Militärs erklären, die Kontrolle über das Land zu haben. Die | |
Regierung widerspricht. Bei Kämpfen zwischen den Lagern sterben mehrere | |
Menschen. |