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# taz.de -- Polizeigewalt in Brasilien: Fackel mit Blutspuren
> Die Gewalt in den Favelas macht auch während der Olympischen Spielen
> nicht halt. Die Polizei tötet vor allem schwarze junge Männer.
Bild: Leben und Tod in der Favela: Junge mit Drachen auf dem Friedhof in Rio de…
RIO DE JANEIRO taz | Fünf Freunde wollten das erste Gehalt ihres Kumpels
feiern, doch die Party endete mit ihrem Tod. Als sie durch die Siedlung
Complexo da Pedreira im Norden von Rio fuhren, eröffneten Polizisten das
Feuer. Ihr Auto wurde von mehr als 50 Schüssen durchlöchert, die fünf
jungen Männer starben. Um das Massaker als Selbstverteidigung zu tarnen,
legten die Polizisten eine Spielzeugpistole in der Nähe des Autos ab. Doch
Favelabewohner zeigten das Verbrechen an. Vier Polizisten wurden verhaftet,
immerhin.
In Brasilien stirbt alle 23 Minuten ein schwarzer Jugendlicher zwischen 15
und 29 Jahren, 23.100 jedes Jahr, so das Ergebnis einer Arbeitsgruppe des
Senats in der Hauptstadt Brasília. Doch während in den USA Tausende
Menschen der „Black lives matters“-Bewegung auf die Straße gehen, um gegen
Gewalt und Ermordungen der schwarzen Bevölkerung zu demonstrieren, kommt
der Aufschrei hier von nur wenigen.
„Brasilien ist extrem rassistisch“, sagt der Menschenrechtsaktivist Raul
Santiago, 27, der im Complexo do Alemão lebt, einem der größten
Favelakomplexe im Norden von Rio de Janeiro. Rund 200.000 Menschen wohnen
in den Ziegelhäuschen, die sich auf den Hügeln des Areals drängen.
Dazwischen lärmen Hunde, Wäsche schaukelt, Kinder lassen Drachen steigen.
Es ist eine gefährliche Gegend. An einigen Ecken stehen jetzt Polizisten
mit Sturmgewehren statt Drogengangster. Die Beamten verstecken sich hinter
Hausvorsprüngen in den engen Gassen oder suchen Unterschlupf in Schulen.
Jeden Tag sieht Raul Santiago, wie Jugendliche von der Polizei drangsaliert
werden, wie Menschen, die Polizeigewalt anzeigen, eingeschüchtert werden,
als hätten sie keine Rechte. „Schwarze junge Männer“, sagt er, „sind f�…
viele automatisch Drogendealer und Kriminelle.“
## Ein Krieg, der auch vor Olympia nicht haltmacht
Raul Santiago hat den „Papo Reto“ mitgegründet, eine Gruppe von jungen
Menschen aus der Favela, die „Klartext reden“, die die Probleme der
Stadtviertel in die Öffentlichkeit tragen. Seit Jahren prangert er an, was
in den Favelas von Rio de Janeiro schiefläuft. Inzwischen macht er das
hauptberuflich, aus der Gruppe engagierter Freunde ist eine NGO geworden.
Mit seinem Smartphone in der Hand läuft Raul Santiago durch die schmalen
Gassen des Complexo do Alemão; die Menschen kennen ihn, nicken und rufen
ihm zu. Er fotografiert Einschusslöcher in einer Häuserwand, Spuren einer
Schießerei. Dann scrollt er durch ein Dutzend Fotos, auf denen Panzer durch
die Favelas rollen. „Es fühlt sich hier an wie im Krieg“, sagt er. Ein
Krieg, der auch vor Olympia nicht haltmacht.
Raul Santiago sagt, die sportlichen Großereignisse seien an der
Militarisierung der Favelas schuld. Er ist ein resoluter Typ, seine Basecap
nimmt er fast nie ab, er trägt Shorts und ein weites Basketballshirt. Dabei
hat er alles andere als Basketballergröße. Sein Gesicht hat etwas Hartes,
dabei ist er ein emotionaler Mensch. Als er vor ein paar Monaten in einer
Diskussionsrunde mit anderen Aktivisten, lokalen Favelavertretern und der
Polizei einen Vortrag hielt, endete er mit einem Rap über Freunde, die
sterben, und über Mütter, die ihre Kinder verlieren. Tränen liefen ihm die
Wangen herunter.
Die Siedlungen des Complexo do Alemão gehören zu den mehr als 200 Favelas,
die im Vorfeld von Fußball-WM und Olympia von staatlichen
Sicherheitskräften besetzt wurden. Die Präsenz der Polizisten sollte die
Macht der Drogengang brechen, die Favelas befrieden. Doch die Gangs lassen
sich nicht verdrängen, erobern nach und nach ihr Gebiet zurück.
## Im Ausnahmezustand
Während die Politik die Olympischen Spiele feiert, befindet sich das
Complexo do Alemão seit Wochen im Ausnahmezustand. Fast täglich beschießen
sich Mitglieder der Drogenbanden und Polizei. Unter der Woche, wenn die
Kinder zur Schule und ihre Eltern zur Arbeit gehen, und am Wochenende, wenn
die Menschen auf den Straßen ein Bier trinken und gemeinsam grillen wollen.
Die Seilbahn, die Bewohner und seltener Touristen über die Favela
transportiert, wird immer wieder gestoppt. Ein Querschläger könnte die
Scheiben der Gondeln durchschlagen.
Die Gangster zu beschuldigen, das ist auch für Raul Santiago zu gefährlich.
Das Fehlverhalten der Polizei jedoch ist offensichtlich. Raul Santiago
erinnert sich daran, wie im vergangenen Sommer ein Zehnjähriger getötet
wurde, Eduardo hieß er. Er saß mit seinem Handy auf der Treppe vor der
Hütte seiner Familie, als ihn Polizisten erschossen – aus Versehen. Für
Raul Santiago ein einschneidendes Ereignis. Es hat Hunderte von Menschen
auf die Straße gebracht.
Ihm gefalle die Idee der Olympischen Spiele, durch Sport Menschen zu
verbinden, sagt er. „Doch hier in Rio ist es nur ein Privatereignis für die
Elite.“ Das Geld wurde in Sportstädte und Orte für Touristen investiert,
die Favelabewohner haben wie schon zur WM relativ wenig Investitionen
gesehen.
## Gewalt ohne Folgen
Weil Raul Santiagos Stimme Einfluss hat, weil er sich das Wort nicht
verbieten lässt, wurde er schon zu den Vereinten Nationen nach New York
eingeladen, um über die Situation im Complexo do Alemão zu berichten. Die
Einladung, die olympische Fackel durch Rio zu tragen, hat er hingegen
abgelehnt. Stattdessen hat er zusammen mit anderen Bewohnern Fackeln mit
Blutspuren durch die Favela getragen.
Dass die Großereignisse keinen Frieden in die Stadt bringen werden, ahnte
auch Monica Cunha von Anfang an. Sie wird nicht müde, ihr Anliegen
vorzutragen. Schon gar nicht, wenn sie in der PUC, der teuersten Privatuni
von Rio, sitzt, um mit Studenten zu sprechen. „Die Planung der Olympischen
Spiele war von vornherein darauf ausgerichtet, junge schwarze Menschen zu
exekutieren“, sagt sie. Ihre eigene Geschichte ist der Grund für eine solch
provokante Aussagen.
Sie leitet Movimento Moleque, eine Organisation für Mütter, deren Kinder
durch die Polizei ermordet wurden. Ihr Sohn starb mit 20 Jahren durch die
Waffe von Polizisten. Seitdem kämpft sie gegen die Militarisierung der
Favelas und unterstützt Angehörige getöteter Kinder. Gefängnisse und
Friedhöfe, sagt sie, hätten in Brasilien eine Farbe: Schwarz.
Allein im Vorfeld von Olympia sind in Rio laut Amnesty International
bereits 124 Menschen von der Polizei erschossen worden – meistens schwarze
junge Männer. 35 Menschen starben im April, 40 im Mai und 49 im Juni. Die
Tötungen bleiben meistens folgenlos, Todesumstände in Favelas werden selten
untersucht. Meistens geben die Polizisten an, zur Selbstverteidigung
geschossen zu haben. In 99 Prozent dieser Fälle, so der Soziologe Michel
Misse, wird die Sache unbearbeitet zu den Akten gelegt.
## Favelabewohner dokumentieren online die Gewalt
Doch mittlerweile regt sich Widerstand. In den sozialen Netzwerken
dokumentieren Favelabewohner die Gewalt. Raul Santiago und sein Kollektiv,
aber auch andere Favelamedien und Facebook-Seiten veröffentlichen Videos
und Fotos als Beweise – und machen sichtbar, wie brutal die Polizisten in
den Favelas vorgehen. Über die Crowdsourcing-App „Nós Por Nós“ kann
inzwischen jeder Favelabewohner Gewalt anzeigen.
Amnesty International hat vor Kurzem die App „Fogo Cruzado“ gelauncht, die
Schießereien in Echtzeit festhält: 762 Schießereien haben Favelabewohner
aus Rio für den Monat Juli gemeldet. So erleben auch die Brasilianer
außerhalb der Favelas die alltägliche Gewalt: etwa wie Polizisten einen
jungen Mann auf einer Terrasse exekutieren und die Leiche wegschleppen.
Mehr Polizei helfe nicht, Frieden in die Favelas zu bringen, sagt Raul
Santiago. Es brauche mehr Geld für Schulen und Gesundheitsversorgung. Das
größte Problem sei aber der Blick auf die Favelas, sie würden immer noch
nur als Orte der Armut betrachtet. Er wünscht sich mehr Wertschätzung
dafür, wie sie in dieser schwierigen Umgebung an Lösungen arbeiten. „Die
Favela hat Potenzial“, sagt er.
5 Aug 2016
## AUTOREN
Julia Jaroschewski
## TAGS
Brasilien
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