| # taz.de -- Mord an brasilianischer Lokalpolitikerin: „Weiße Unschuld“ tö… | |
| > Im März wurde in Rio de Janeiro die Politikerin Marielle Franco ermordet. | |
| > Die Ermittlungen laufen, keiner nennt das Tatmotiv: Rassismus. | |
| Bild: Demonstrantin für Marielle Franco, Sao Paolo, vier Wochen nach dem Mord | |
| Marielle Franco war auf dem Heimweg von einer politischen Diskussion, als | |
| sie am 14. März mitten in Rio de Janeiro durch [1][mindestens vier | |
| Kopfschüsse getötet wurde]. Ihre Mörder hatten bewusst auf die Rückbank des | |
| Autos gezielt. Mit Franco starb ihr Fahrer Anderson Gomes. | |
| Der brutale Mord hat Menschen auf der ganzen Welt erschüttert. | |
| Internationale Medien berichteten, Zehntausende gingen [2][auf die Straße]. | |
| „Wir sind alle Marielle“, skandierten sie, in den sozialen Netzwerken | |
| entstanden die Hashtags #MarielleVive und #MariellePresente. | |
| Wenige Tage nach dem Mord zeigten ballistische Untersuchungen, woher die | |
| tödlichen Kugeln kamen: aus dem ehemaligen Bestand der brasilianischen | |
| Bundespolizei. Dennoch sind die Mörder der außerordentlich beliebten | |
| 38-jährigen Politikerin bis heute nicht gefasst. | |
| Der Sicherheitsminister Raul Jungmann erklärte kürzlich, dass viel dafür | |
| spreche, dass Milizen sie erschossen hätten. Franco war Mitglied in einem | |
| parlamentarischen Untersuchungsausschuss zu Milizen, also jenen | |
| paramilitärischen, mafiösen Gruppen aus teils Ex-, teils noch aktiven | |
| Polizisten, Soldaten, Feuerwehrmännern und Gefängniswärtern, die mit | |
| Waffengewalt die Favelas kontrollieren und Schutzgelder erpressen. | |
| ## Das brutalste Land der Welt | |
| Doch auch wenn die Ermittler immer neue Theorien über die Verdächtigen | |
| präsentieren, benennen sie nie einen ganz zentralen, wenn nicht den | |
| zentralen Aspekt dieses Mordes: Marielle war Schwarz. Der Anschlag auf sie | |
| fügt sich ein in eine Reihe von Hunderten Morden an brasilianischen | |
| Schwarzen – in einem Land, das sowieso zu den brutalsten der Welt gehört. | |
| Rund 61.000 Menschen wurden hier laut staatlicher Statistik im vergangenen | |
| Jahr ermordet. Das sind sieben pro Stunde, ein neuer Negativrekord. Die | |
| Mehrheit der Opfer ist Schwarz. Junge Schwarze sind in Brasilien 2,6-mal | |
| mehr gefährdet, ermordet zu werden, als junge Weiße, berichtet das | |
| staatliche Instituto de Pesquisa Econômica Aplicada. | |
| Auch Medien thematisieren diesen Aspekt nicht. Stattdessen spekulieren sie. | |
| So mutmaßten Journalisten unmittelbar nach dem Anschlag, dass er begangen | |
| wurde, um die Bevölkerung zu verunsichern, damit sie militärischen | |
| Interventionen in Rio zustimmt. | |
| Wenn der Mord an Marielle Franco aber nur ein politisches Druckmittel | |
| gewesen sein soll, warum musste der ermordete Körper wieder einmal ein | |
| Schwarzer sein? Wieso wird in der brasilianischen Öffentlichkeit kaum | |
| darüber gesprochen, was diese Tat auch gewesen ist: ein politischer, | |
| rassistischer Mord à la Malcolm X oder Martin Luther King. | |
| ## So beliebt wie kaum eine Politikerin | |
| Marielle Franco war eine leidenschaftliche Kämpferin für Menschenrechte. | |
| Geboren und aufgewachsen ist sie in Maré, einem Armenviertel von Rio. Sie | |
| studierte Soziologie und trat 2006 der Partei Sozialismus und Freiheit bei. | |
| Seit 2016 saß sie im Stadtparlament und war Präsidentin des dortigen | |
| Frauenausschusses. Polizeigewalt und Rassismus in den Favelas waren ihre | |
| großen Themen. Sie war so beliebt wie kaum eine andere Lokalpolitikerin. | |
| Es gibt viele Fälle wie den von Marielle Franco. Da waren beispielsweise | |
| die weniger aufsehenerregenden, aber nicht minder skandalösen Morde an | |
| Cláudia Ferreira und Amarildo Souza. Ferreira wurde 2014 beim Einkaufen von | |
| der Militärpolizei angeschossen, in den Kofferraum eines Autos gestopft, | |
| aus dem sie während der Fahrt herausfiel, sodass sie blutüberströmt durch | |
| die Stadt geschleift wurde. Amarildo Souza „verschwand“, nachdem er auf | |
| einer Polizeiwache vernommen worden war. | |
| Aber während es weltweit Diskussionen über Polizeigewalt gegen Schwarze in | |
| den USA gibt, interessiert der Rassismus in Brasilien noch nicht einmal die | |
| eigene Bevölkerung. Auch bei den zwei genannten Morden verschwiegen die | |
| brasilianischen Massenmedien, die Parteien und die Transparente auf den | |
| Protestkundgebungen die Hautfarbe ihrer Körper. Unter den Zehntausenden, | |
| die nach Marielle Francos Tod durch Rio zogen, suchte man Transparente mit | |
| expliziten Botschaften gegen Rassismus und gegen das endlose Morden an | |
| Schwarzen vergebens. Dabei waren es genau diese, für die Marielle Franco | |
| kämpfte. | |
| Besonders problematisch ist, dass in den Berichten über den Mord an Franco | |
| zwar die räumliche Ausgrenzung und die zunehmende Polizeigewalt in Rios | |
| Favelas thematisiert werden. Dass die Menschen in den Favelas aber nicht | |
| nur arm, sondern vor allem Schwarz sind, und dass die soziale Spaltung der | |
| Stadt also rassistische Ursachen hat, wird aber verschwiegen. Das | |
| banalisiert die unermessliche Tragödie der Geschichte der Sklaverei in | |
| Brasilien. Anstatt sich mit den Strukturen rassistischer Ungleichheiten und | |
| weißer Privilegien auseinanderzusetzen, werden die Erinnerungen verwischt. | |
| ## Wir müssen vom „Weißsein“ sprechen | |
| Das konsequente Verschweigen von Francos Hautfarbe ist eine direkte | |
| Aufforderung, den Zusammenhang zu einer durch und durch rassistischen | |
| Gesellschaft, zu weißer Hegemonie und deren Ideologie herzustellen. Welche | |
| Personen sind es, die es ablehnen, auf Demos Flagge gegen Rassismus zu | |
| zeigen? Wer trägt dort das Megafon? Wer führt die Kundgebungen an? Wer | |
| weigert sich, die rassistische Agenda der Exekution zu benennen und warum? | |
| Wenn wir das verstehen wollen, müssen wir vom Weißsein sprechen. Denn dass | |
| in der Aufarbeitung des Mordes Rassismus nicht als Motiv erkannt wird, | |
| liegt hauptsächlich daran, dass die politische Agenda von Weißen gemacht | |
| und durchgesetzt wird. Es gäbe unmöglich so viele Schwarze ermordete Körper | |
| in Brasilien, wenn sich nicht ein „großes weißes Monster“ im Getriebe | |
| dieser Tötungsmaschine verbergen würde. | |
| Die Anthropologin Glória Wekker spricht von „weißer Unschuld“ und meint | |
| damit das Selbstbild, das viele Weiße von sich haben: als gerechte, | |
| ethische und nicht-rassistische Personen. Die „weiße Unschuld“ erlaubt es, | |
| aus einer (selbst-)sicheren Position heraus rassistische Motive zu | |
| ignorieren oder zu verneinen. Tatsächlich aber kolonisiert und mordet | |
| niemand mehr als 400 Jahre lang unschuldig. | |
| Der Genozid an der Schwarzen Bevölkerung in der Diaspora hat mit Weißsein | |
| zu tun, weil Weiße ihre Privilegien nicht aufgeben wollen. Ihre Macht, | |
| wissen, sprechen, schreiben, sich frei bewegen und definieren zu können, | |
| was die Anderen dürfen und was nicht. | |
| ## Freiwilliges Unverständnis oder eine militante Ignoranz | |
| Der Genozid an der Schwarzen Bevölkerung in der Diaspora hat mit Weißsein | |
| zu tun, weil das Weißsein ein weißes Ich hervorbringt, welches dazu neigt, | |
| den Rassismus der Welt in der es lebt, nicht verstehen zu wollen. So ist es | |
| ihnen möglich, wie die Philosophinnen Shannon Sullivan und Nancy Tuana | |
| zeigen, von ihren rassistischen Hierarchien zu profitieren. Sei es | |
| freiwilliges Unverständnis oder eine militante Ignoranz: Nur Weiße haben | |
| die Macht, die Frage des Rassismus abzulehnen oder zu vernachlässigen. | |
| Militante Ignoranz und als „weiße Unschuld“ verkleidetes Weißsein stehlen | |
| Schwarzen die Bühne, die Stimme und den Raum. Man schwenkt gemeinsam die | |
| Fahnen des Feminismus und gegen Klassismus, aber die Fahne gegen Rassismus | |
| wird oft „vergessen“. | |
| Marielle Francos Tod zeigt, dass „weiße Unschuld“ tödlich ist – für un… | |
| die wir Schwarz sind. Nicht immer braucht es einen kaltblütigen Mord, oft | |
| reicht Alltagsrassismus, wie die Historikerin Beatriz Nascimento zeigt. | |
| Da sind die vermeintlichen Querschläger bei Schießereien, die eine*n | |
| Schwarze*n treffen, oder die alltägliche Entmenschlichung und | |
| Sexualisierung unserer Körper: Wenn Mordstatistiken Opfer zählen, aber | |
| nicht deren ethnische Zugehörigkeit erheben, wenn Schwarze Ideengeschichte | |
| in den Unis verschwiegen wird, wenn Namen von Schwarzen Intellektuellen | |
| übergangen werden. Wenn die Schwarze Hausangestellte ohne Arbeitsvertrag | |
| beschäftigt wird, wenn es kaum eine*r von uns in Politik und Wirtschaft | |
| schafft, wenn unsere Kinder als „exotisch“ bezeichnet werden, wenn wir | |
| Mütter für das Kindermädchen gehalten werden oder gar für eine | |
| Kindesräuberin. | |
| ## Menschenrechte nicht für Schwarze | |
| Die Rechtsprechung brasilianischer Strafgerichte zeigt, dass mit Schwarzen | |
| Körpern anscheinend alles erlaubt ist: Sie werden von Polizisten | |
| blutüberströmt durch die Straßen geschleift, als religiöser Opferkult zu | |
| Tode gesteinigt, an Pfosten gefesselt zur Abschreckung, wie eine | |
| Vogelscheuche. Verurteilt werden die meist weißen Täter selten. | |
| Menschenrechte scheinen für Schwarze nicht zu gelten, in Gerichtsverfahren | |
| von Schwarzen Opfern werden sie oft nicht erwähnt. | |
| Marielle Francos Tod hat uns Schwarze wieder daran erinnert, was es | |
| bedeutet, als die „Anderen“ zu leben und zu sterben. Ja, wir sind die | |
| „Anderen“. Aber nicht weil wir Schwarz sind. Sondern weil uns Weiße dazu | |
| machen. | |
| Aus dem Portugiesischen von Guido Schulz | |
| 7 May 2018 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Brasilianische-Feministin-Marielle-Franco/!5491931 | |
| [2] /Ermordete-Politikerin-in-Brasilien/!5495108 | |
| ## AUTOREN | |
| Antônia Gabriela P. de Araujo | |
| ## TAGS | |
| Critical Whiteness | |
| Schwerpunkt Rassismus | |
| Marielle Franco | |
| Brasilien | |
| Rio de Janeiro | |
| Brasilien | |
| Marielle Franco | |
| Black Lives Matter | |
| Rio de Janeiro | |
| Brasilien | |
| Brasilien | |
| Brasilien | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Verdacht gegen Brasiliens Präsidenten: Bolsonaro in Mord verwickelt? | |
| Hatte Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro Verbindungen zum mutmaßlichen | |
| Mörder der linken Stadträtin Marielle Franco? Das legt ein TV-Bericht nahe. | |
| Mord an linker Politikerin in Brasilien: Mörder gefasst, Fall ungelöst | |
| Ein Jahr nach dem Mord an der linken Stadträtin Marielle Franco: Brasiliens | |
| Polizei präsentiert die mutmaßlichen Mörder. | |
| Polizeigewalt in den USA: NBA-Profi von Polizei misshandelt | |
| Ein schwarzer Basketballer wird von Beamten auf einem Parkplatz brutal | |
| behandelt. Er hatte mit seinem Wagen zwei Stellplätze blockiert. | |
| Steigende Polizeigewalt in Brasilien: 5.000 Tote bei Einsätzen der Polizei | |
| Immer mehr Menschen sterben in Brasilien durch Kugeln der Polizei. Diese | |
| spricht von Notwehr, Menschenrechtler dagegen erkennen Hinrichtungen. | |
| Nach dem Attentat auf linke Brasilianerin: Wurde nun ein Zeuge ermordet? | |
| In Rio wird der Mitarbeiter eines rechten Stadtrats getötet. Womöglich, | |
| weil er zu viel wusste über den Mord an der linken Politikerin Marielle | |
| Franco. | |
| Brasilianische Feministin Marielle Franco: Linke Stadträtin in Rio ermordet | |
| Sie war auf einer Veranstaltung für die Rechte Schwarzer Frauen. Auf dem | |
| Rückweg wurde die 38-jährige Politikerin in ihrem Wagen erschossen. | |
| Polizeigewalt in Brasilien: Fackel mit Blutspuren | |
| Die Gewalt in den Favelas macht auch während der Olympischen Spielen nicht | |
| halt. Die Polizei tötet vor allem schwarze junge Männer. |