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# taz.de -- Italiens Premier Matteo Renzi: Jenseits von Berlusconi
> Italiens Regierungschef Matteo Renzi wird in Deutschland gern als
> Reformer gefeiert. Doch der Eindruck täuscht gewaltig.
Bild: Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi, hier beim EU-Gipfel in Brüssel…
Neulich war ich zum ersten Mal wieder in Castiglioncello, dem kleinen
toskanischen Badeort, in dem ich vor langer Zeit Italienisch gelernt habe.
Besonders das passato remoto machte mich fertig, im Italienischen gibt es
Zeiten, die kann man sich als Deutsche gar nicht vorstellen, geschweige
denn konjugieren.
Um mich von den Tücken der Grammatik zu erholen, ging ich mit meinen
Verbtabellen nachmittags an den Strand, wo die Italiener zu meiner
Überraschung nicht über das beste Sonnenöl, sondern über das System der
illegalen Parteienfinanzierung von Sozialisten und Christdemokraten
redeten, über Amtsmissbrauch, Bestechungsgelder und Mordkomplotte:
Ereignisse, die sie im Indikativ Präsens schilderten – und von denen ich
noch nie gehört hatte, obwohl ich täglich drei deutsche Tageszeitungen las.
Wenig später zog ich nach Italien und wurde Zeugin, wie das italienische
Parteiensystem im Orkus des Schmiergeldskandals verschwand, die
Antimafia-Staatsanwälte Giovanni Falcone und Paolo Borsellino in die Luft
gesprengt wurden, der siebenfache Ministerpräsident Giulio Andreotti wegen
Unterstützung der Mafia verurteilt wurde und Silvio Berlusconi an die Macht
gelangte – an der er fast zwanzig Jahre kleben sollte. Bis Matteo Renzi
kam. Der selbst ernannte Verschrotter. Der alle loswerden wollte: die
politische Führungsklasse, „die schlechteste, die wir je hatten“, die
Gewerkschaften, die linken Parolen, die „Theoretiker des Mauschelns mit
Berlusconi“. Und der dafür von der deutschen Presse wie ein Messias
bejubelt wurde.
Gut, nach zwanzig Jahren Berlusconi ist es jeder wert, bejubelt zu werden.
Endlich nichts mehr über B.s Vorstrafen, Liftings und Bunga-Bunga.
Stattdessen lese ich: Beifallsstürme für Renzis Wahlrechtsreform,
Ovationen für Renzis Verfassungsreform, Lorbeerkränze für Renzis Hashtags
und Facebook-Posts.
Ich würde ja gerne annehmen, dass diese Jubelarien Frucht einer profunden
politischen Analyse sind – wenn ich sie nicht bereits am Tag zuvor in der
italienischen Regierungspresse gelesen hätte, die in überwältigender
Mehrheit Parteien, parteinahen Unternehmensverbänden, parteinahen
Industriellen und vorbestraften Multimilliardären mit eigener Partei
gehören. Und die staatlich subventioniert wird, was zu Liebesdiensten
stimuliert. Um so mehr erstaunt, wenn selbst der Spiegel dem Journalisten
Giuliano Ferrara zwei Seiten für eine Renzi-Eloge einräumt: „Einer wie
Berlusconi. Warum ich mich in Renzi verguckt habe.“ Von den deutschen
Lesern wissen vermutlich nur wenige, dass Ferrara, der erst Kader der
Kommunistischen Partei war, um dann Craxianer unter Craxi, Berlusconianer
unter Berlusconi und jetzt natürlich Renzianer unter Renzi zu werden, als
Chefredakteur von Berlusconis Blatt Il Foglio Diffamierungskampagnen jeder
Art übernahm, um Berlusconis politische Gegner, Parteiabweichler und
ermittelnde Staatsanwälte zu treffen.
## Kriminelle Vereinigung
Ein Teilnehmer von Italienisch für Fortgeschrittene würde am Strand von
Castiglioncello wohl auch heute noch Erstaunliches erfahren. Etwa über die
unheilige Allianz zwischen dem italienischen Ministerpräsidenten Renzi und
Denis Verdini, dem Vertrauten Berlusconis, die Dreh- und Angelpunkt von
Renzis Machtsystem ist: Als Berlusconis Macht verblasste, sprang Verdini
auf den Renzi-Zug auf – im Gepäck einen Schuldspruch wegen Korruption und
mehrere laufende Klagen: Verdacht auf kriminelle Vereinigung, Korruption,
betrügerischer Bankrott, Betrug zu Lasten des italienischen Staates.
Die Ermittlungen wegen krimineller Vereinigung werden P3 und P4 genannt –
in Anspielung auf die Geheimloge „P2“, das Netzwerk aus Militärs,
Geheimdienstlern, Mafiabossen und anderen Spitzen der Gesellschaft, das
Anfang der 1980er Jahre in Italien einen Rechtsputsch plante. Verdini wird
der Verrat von Ermittlungsergebnissen, Erpressung, Begünstigung und
Amtsmissbrauch vorgeworfen – was ihn für seine Rolle als Königsmacher
offenbar prädestinierte: Er verhalf Matteo Renzi erst zu einem Mittagessen
in Berlusconis Villa Arcore und schließlich zum „Pakt des Nazareno“, so
genannt nach der Parteizentrale der PD, in der sich Renzi, nachdem er sich
ins Amt gegrätscht hatte, mit Berlusconi traf, um die gemeinsame Basis für
das zu schaffen, was heute in Italien stattfindet: mehr als ein Drittel der
Verfassung zu ändern und den Senat mundtot zu machen.
## Mafiabeihilfe
„Willst du an der Macht bleiben? Ich bin dein Taxi, ich bringe dich von
Berlusconi zu Matteo“, soll Verdini Vertrauten versprochen haben.
Tatsächlich gab es im italienischen Parlament und im Senat noch nie so
viele Wendehälse wie während dieser Legislaturperiode. Für zwei
Spießgesellen Verdinis kam das Taxi allerdings zu spät: Der ehemalige
Senator Marcello Dell’Utri, Berlusconis rechte Hand, sitzt wegen
Mafiabeihilfe im Gefängnis, genau wie der ehemalige
Forza-Italia-Wirtschaftsstaatssekretär Nicola Cosentino.
Der Pakt des Nazareno wurde aufgelöst, nachdem genügend Überläufer auf
Renzis Seite gewechselt waren und er auch gegen seine innerparteilichen
Kritiker durchregieren kann. Flugs funktionierte er das Porcellum,
„Schweinerei“ genannte bisherige Wahlrecht zum Italicum um, womit er die
Neigung der Linken zur Gründung von Miniparteien zu beseitigen hoffte:
Keine Parteienkoalition, sondern eine Partei, die mit 40 Prozent aller
Stimmen gewählt wird, wird mit dem „Mehrheitsbonus“ von 55 Prozent der
Parlamentssitze belohnt. Sollten die 40 Prozent im ersten Wahlgang nicht
erreicht werden, treten die zwei stärksten Parteien erneut gegeneinander an
– wodurch am Ende eine Partei regieren könnte, hinter der nur 20 Prozent
der Wähler stehen.
„Nie mehr italienische Verhältnisse“, titelte die FAZ, als es um das neue
Wahlrecht ging. Ein gigantisches Missverständnis: Ja, Italien bringt es auf
65 Nachkriegsregierungen – aber stets mit den gleichen Gesichtern. Zumal
das Italicum alle Ferkeleien des alten Wahlgesetzes enthält: Auch weiterhin
können die Italiener keine Kandidaten, sondern nur Parteien wählen – die
Katze im Sack, weil die Parteien nach den Wahlen jeden, der ihnen genehm
ist, zu Abgeordneten ernennen.
Kaum war das Wahlrecht unter Dach und Fach, trommelte Renzi für die
Verfassungsreform – gegen die nicht nur der ehemalige Präsident des
italienischen Verfassungsgerichts zusammen mit 56 weiteren
Verfassungsrechtlern kämpft, sondern auch zahlreiche Intellektuelle,
Journalisten und Künstler, die darin eine Gefahr für die Demokratie sehen:
In Zukunft sitzen im Senat nicht mehr von den Bürgern gewählte, sondern von
den Parteien bestimmte Bürgermeister und Regionalpräsidenten – die so auch
noch in den Genuss der parlamentarischen Immunität kommen. Von dieser
Machtfülle hat Berlusconi vergeblich geträumt.
## Moralische Standards
„Operation Überzeugung“, jubelte die Süddeutsche Zeitung – die, wäre e…
solche „Reform“ für Deutschland auch nur angedacht worden, wohl zur
Revolution aufgerufen hätte. Aber Italien? Gottchen ja, kennt man doch. Für
Italien gelten andere moralische Standards. Auch in der Berichterstattung.
Das neue Wahlrecht könnte sich für Renzi allerdings zu einem Eigentor
entwickeln: Bei einer Stichwahl hätte nicht seine PD, sondern die
5-Sterne-Bewegung die Nase vorn. Und da wird es interessant. Auch für die
deutsche Presse – die, wenn es um die größte italienische Oppositionspartei
geht, den gleichen Schaum vor dem Mund hat wie die italienische
Regierungspresse. Woran auch der Erdrutschsieg bei den Bürgermeisterwahlen
in Rom und Turin nichts änderte.
Ich frage mich, wie man reagiert hätte, wenn die italienische Presse die
deutschen Grünen mit ebenso viel Häme bedacht hätte: „Krawallpopulisten“,
„Fundamentaloppositionelle“, „Antipolitik“. Die Grünen von damals waren
ebenso heterogen wie es die 5-Sterne-Bewegung heute ist. Und doch haben sie
es geschafft, die politische Kultur unseres Landes zu verändern.
Vielleicht wäre es gut, mal fünf Sekunden lang die Augen zu schließen und
sich vorzustellen, in einem Land zu leben, das 40 Jahre lang von Giulio
Andreotti regiert wurde und danach 20 Jahre lang von Silvio Berlusconi,
einem Land, in dem es in den letzten Jahren keine Opposition gab, weil sich
die PD bestens mit B. arrangiert hat, und wo nahezu täglich Politiker wegen
Betrugs, Korruption oder Mafiaunterstützung festgenommen werden.
Ich persönlich jedenfalls gebe die Hoffnung nicht auf, dass man am Strand
von Castiglioncello von alldem irgendwann im passato remoto sprechen wird,
das abgeschlossene Handlungen der Vergangenheit ausdrückt, ohne jeden
Gegenwartsbezug.
19 Aug 2016
## AUTOREN
Petra Reski
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