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# taz.de -- Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge: Endlich Zeit für Harry P…
> Jugendliche, die ohne Eltern aus Kriegsgebieten nach Deutschland fliehen,
> brauchen intensive Betreuung – so wie bei „Munita“ in Spandau. Ein
> Besuch.
Bild: In Berlin-Kladow haben sie sich ein Stück Normalität aufgebaut: Mansour…
Anas und Walid sind die dicksten Freunde: Die 16-Jährigen gehen in
dieselbe 10. Klasse, wollen beide Arzt werden. Sie teilen sich ein
Zimmer, kochen miteinander, wenn sie nicht gerade im Ramadan
fasten. Kurzum: Sie gehen durch dick und dünn – und so war es schon in
Damaskus.
Vor vier Monaten machten sie sich gemeinsam auf die Flucht nach
Deutschland. Ohne ihre Eltern, ihre Familien: „Zu viel Geld“, erklärt
Walid lapidar. Zwei Wochen dauerte die Reise auf der bekannten Route:
Türkei, Griechenland, ein Schlauchboot nach Lesbos, von dort nach
Athen, Mazedonien, Serbien, Österreich, Bayern.
So sind sie in Kladow gelandet, bei Munita, einer Einrichtung für
unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, kurz UMFs. Hier, am
südwestlichen Rand von Berlin, wo die mit Kiefernzapfen übersäten
Bürgersteige von Jägerzäunen oder gestutzten Buchsbaumhecken gesäumt
werden, unterhält das Deutsche Rote Kreuz (DRK) das
Rotkreuz-Institut Berufsbildungswerk (RKI BBW) samt
angeschlossenem Internat. Weil einige Zimmer leer standen und
dringend Plätze für UMFs gebraucht werden, eröffnete das DRK im
Dezember Munita mit zunächst vier Jugendlichen. Heute sind es 21.
Acht von ihnen kommen wie Anas und Walid aus bayerischen
Erstaufnahmeeinrichtungen. Und weil es schon vorgekommen ist,
dass dort Schlepper auftauchen und Jugendliche entführen, damit
ihre Familien das Geld für die letzte Etappe der Flucht bezahlen,
sollen die echten Namen aller Jungen, die im Text vorkommen, sowie
Details über Herkunft und Fluchtroute nicht in der Zeitung stehen.
Das sei den gesetzlichen Vormunden in Bayern sehr wichtig, erklärt
der Leiter von Munita, Roger Weber.
## Schlepper in der Erstaufnahme
Ohnehin sind die Jugendlichen eher zurückhaltend. Der Grund dafür
dürfte weniger in Sprachbarrieren liegen – Anas und Walid sprechen
so gut Deutsch, dass sie bereits in eine Regelklasse der
Waldorfschule Kladow gehen. Aber die Gesprächssituation muss auf
die Jungen einschüchternd wirken: Das RKI BBW hat zur verspäteten
Eröffnungsfeier von Munita eine Fachtagung organisiert, auf der
ein paar Jungs vorgestellt werden.
Und so sitzen vier von ihnen – neben Anas und Walid auch Hamoudi (17)
aus Aleppo und Mansour (16) aus Afghanistan – am Gartentisch vor
Haus A, um Journalisten Fragen zu beantworten.
Wieso kamt ihr von Bayern nach Berlin?
Anas: Wir wollten in die Hauptstadt.
Warum?
Anas: Schöne Stadt.
Hamoudi: Mein Onkel lebt hier, er ist Apotheker.
Was kennt ihr von Berlin?
Walid: Ich bin jetzt jeden Tag am Alexanderplatz, mache ein Praktikum
im Krankenhaus Alexianer.
Anas: Ich mache auch ein Praktikum im Krankenhaus.
Habt ihr schon Freunde gefunden?
Anas: Ja.
Auch Deutsche?
Anas: Ja. Deutsche, Türken, alles.
Mansour: Nein, eher Afghanen.
Was unternehmt ihr mit euren Freunden?
Anas: Manchmal gehen wir nach Berlin, in die Stadt.
Was macht ihr da?
Anas: Spazieren.
Wo?
Mansour: Alexanderplatz, Museumsinsel, ich mag die Statuen.
Anas: Wir sind zum Herrmannplatz gegangen.
Walid: Da ist eine arabische Straße.
Ah, die Sonnenallee. Woher wisst ihr, dass dort viele Araber leben?
Anas: Facebook.
Später zeigen sie ihre Zimmer. Über Anas’ Bett hängt ein gutes Dutzend
Zeichnungen: Harry Potter, Adèle, Katzengesichter – was
Jugendliche so interessiert. Anas scheint Talent zu haben: Ob er
nicht lieber Künstler werden wolle? Erst lächelt er bescheiden, dann
entscheidet er sich für einen Witz: „Blutdruck messen ist auch eine
Kunst“, sagt er und lacht.
Kopf an Fuß mit Anas’ Bett steht das von Walid. Auch er hat gezeichnet:
eine Syrien-Flagge mit geballter Faust in der Mitte. „Wir sind stark“,
erklärt er – wobei unklar bleibt, wen er mit „wir“ meint. Aber
wichtiger ist Walid sowieso sein Koran. Stolz präsentiert er das
prächtig-kitschig verzierte Buch, das er auf der Sonnenallee
gekauft hat.
Walid ist sein Glaube wichtig: Um den Hals trägt er ein rundes
Silbermedaillon mit eingraviertem Koranspruch, wie er erklärt,
mindestens alle zwei Wochen fährt er nach Spandau in die Moschee. Auch
die Sehitlik-Moschee neben dem Tempelhofer Feld hat er schon
besucht. Sein Handy ist voll mit Fotos von islamischen Heiligtümern,
die er sich aus dem Internet geladen hat und unaufgefordert
vorzeigt: den Felsendom in Jerusalem etwa oder die Kaaba in Mekka.
Am anderen Ende des waldigen, leicht hügeligen Grundstücks in Haus
L sind die Zimmer von Hammoudi und Mansour. Der Weg dorthin zieht
sich, denn Marikka Riep, eine der BetreuerInnen, wird immer wieder
angesprochen. Ein Junge hält der gelernten Erzieherin, die neben
ihrer Arbeit ein sozialpädagogisches Studium angefangen hat,
einen Zettel hin, er braucht Geld für die Schule. „Geh schon mal ins
Büro, ich komme gleich!“
## „Für alles ein offenes Ohr“
Riep ist eine von sieben pädagogischen MitarbeiterInnen, ein
achter Betreuer soll noch dazukommen. „Wir haben für alles ein
offenes Ohr“, sagt Riep und zählt ihre wichtigsten Aufgaben auf:
Hausaufgabenbetreuung und Lernen, gemeinsame Ausflüge, etwa ins
Technik-Museum, am Wochenende zusammen einkaufen, beim Reinigen
der Zimmer helfen. „Ich will nicht sagen, es ist wie mit den eigenen
Kindern, aber es sind die gleichen Aufgaben, die man zu Hause auch
hat“, sagt die Betreuerin. Dazu kommt die Kontaktpflege zum
Jugendamt und zu gesetzlichen Vormunden, das Organisieren von
Arztbesuchen und Behördengängen, gegebenenfalls auch von
psychologischer Hilfe.
„Manche Jugendlichen sind zudem recht betreuungsintensiv“,
ergänzt Leiter Weber, müssten erst die Regeln des Zusammenlebens
lernen – etwa dass man zur festgesetzten Abendstunde zu Hause ist
oder wenigstens anruft. Zu solch alltäglichen Problemen käme
erschwerend die Sprachbarriere hinzu: „Wir können nie sicher sein,
ob die Jugendlichen uns wirklich verstanden haben“, so Weber. Zwar
könne man auf die Gemeindedolmetscher zugreifen, aber die kämen nur
ab und zu auf Bestellung. „Und natürlich gibt es die Möglichkeit,
dass die Jungs nur so tun, als hätten sie nicht verstanden.“
Mansour gehört sicher nicht zu dieser Sorte Jungs. In seinem
aufgeräumten Zimmer, die leeren PET-Flaschen ordentlich gestapelt
zwischen Regal und Wand, hängen über dem Schreibtisch
handgeschriebene Vokabelzettel in Dari-Deutsch. In Afghanistan
konnte der 16-Jährige nur sechs Jahre zur Schule gehen, danach
musste er der Familie in der Landwirtschaft helfen.
Hier hat er große Pläne, möchte Pilot werden oder Elektrotechnik
studieren. Zurzeit besucht er in Spandau eine Willkommensklasse,
Mathe und Geografie macht er schon in der Regelschule – nur weiß er
nicht genau, ob in der siebten oder achten Klasse. „Mansour lernt sehr
fleißig, ist überhaupt sehr selbstständig“, lobt Betreuerin Riep.
## Familiennachzug wird schwieriger
So schwer und weit der Weg ist, den die Jungs noch vor sich haben: In
Munita scheinen sie einen Ort gefunden zu haben, wo ihnen vieles
möglich gemacht wird. Zum Glück, muss man sagen, denn sie werden ein
Weilchen hier bleiben: Mindestens bis sie 18 Jahre alt sind, auf
Antrag, etwa wenn sie in einer Ausbildung sind, kann der Aufenthalt
auch verlängert werden, erklärt Weber.
Ihre Familien werden sie dagegen wohl nicht so schnell
wiedersehen. Der Nachzug von Eltern und minderjährigen
Geschwistern ist erst nach erfolgreichem Asylantrag möglich – was
derzeit noch schwieriger ist also ohnehin. Zum einen seien viele
Amtsvormunde derart überlastet, dass sie für ihre Mündel oft
monatelang gar keinen Asylantrag stellen würden, erklärt
Munita-Leiter Weber. Zum anderen haben die letzten
Asylrechtsverschärfungen der Bundesregierung auch Folgen für die
Jugendlichen: Seither ist der Familiennachzug für Menschen, die
„subsidiären Schutz“ bekommen, erst nach zwei Jahren möglich – und
immer mehr Syrer bekommen nur noch diesen Schutzstatus, kein
individuelles Asyl mehr.
Anas und Walid wissen von all dem nichts, auch nicht, ob ihr Vormund den
Antrag schon gestellt hat. („Hat er“, sagt Riep). Sie bejahen die Frage,
ob ihre Familien hierher kommen sollen – aber ganz dringlich scheint
es ihnen nicht zu sein. Ob sie telefonieren mit den Eltern? Ja klar,
sagt Anas: „Mit WhatsApp.“
21 Jul 2016
## AUTOREN
Susanne Memarnia
## TAGS
Minderjährige Geflüchtete
Willkommensklasse
Jugendhilfe
Joanne K. Rowling
Asylverfahren
Attacke
Bundespolizei
Schwerpunkt Flucht
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