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# taz.de -- Rassismus nach dem Brexit-Referendum: „Geht doch nach Hause“
> Das Votum der Briten, die EU zu verlassen, ist wie ein Fanal. Jetzt
> trauen sich viele, endlich zu sagen, was sie wirklich denken.
Bild: Nach dem Referendum ist aus dem Stolz vieler Austrittsbefürworter Hass g…
London taz | Barkingside, am östlichen Stadtrand von London, ist ein
multikultureller Ort mit einer indischen, pakistanischen, osteuropäischen
Note. Vorstadtverschlafen – bis letzten Donnerstag, als Großbritannien für
den Ausstieg aus der EU stimmte. Seither ist auch Barkingside in Aufruhr.
Es gibt nur ein Thema: den Brexit. Alle haben eine Meinung dazu.
Auf der langen Ladenstraße Barkingsides, die Ende des 19., Anfang des 20.
Jahrhunderts gebauten zweistöckigen Häuser schmiegen sich eng aneinander,
gibt es Läden mit indischen Currys, koscheren Lebensmitteln, asiatische
Nagellackstudios und drei osteuropäische Lebensmittelläden. In einem von
ihnen sitzt – umgeben von getrocknetem Fisch, Spirituosen und Würsten, die
die Luft salzig und pfeffrig machen, die Litauerin Agne Skripskaja hinter
der Theke.
Auf ihrem schwarzen T-Shirt steht „Back to the Moon“. Agne kam vor elf
Jahren nach Großbritannien, 22 war sie da, Buchhalterin, aber ihr Zeugnis
war in England unbrauchbar. „Die Leute sind besorgt“, erzählt sie in gutem
Englisch. „Muss ich jetzt gehen?“, fragen vor allem die Älteren. Manche
erzählen, dass ihren Kindern jetzt zugerufen werde: „Geht doch nach Hause.“
Was das soll? Wo das sein soll? „Auf dem Mond.“
Um 57 Prozent sei die Zahl rassistischer Angriffe auf Osteuropäer und
Muslime innerhalb der ersten drei Tage nach dem Referendum gestiegen, hat
der Rat der nationalen Polizeichefs in Großbritannien errechnet. „Die
Engländer glauben, dass wir ihnen die Arbeit wegnehmen, dabei sitzen viele
von ihnen den ganzen Tag bei McDonald’s rum und tun nichts“, sagt Agne. Als
sie ihrer Cousine nach Großbritannien folgte, schuftete sie zunächst in
einer Fabrik, dann jahrelang bei der Post, bevor sie vor zwei Jahren in dem
Laden anfing.
## Installateur mit sieben Zeugnissen
Ein Kunde, stämmig, füllig, mit vollem Einkaufskorb, mischt sich ein: „Als
ich aus Litauen hierherkam, hatte ich nur eine Ausbildung. Ich verdiente
ein Drittel von dem, was Engländer bekamen, und investierte trotzdem alles
in meine Weiterbildung.“ Virgilijus Barkauskas heißt er und erwähnt stolz,
dass er nun sieben Zeugnisse in den verschiedensten Installateurbereichen
hat. „Die meisten, die mit mir in den Ausbildungen waren, waren Ausländer“,
sagt er. „Ich verstehe das nicht, Engländer haben bessere Chancen, weil sie
sich hier auskennen, und tun trotzdem nichts, um besser zu werden. Sie
beschweren sich nur.“ Auch Agne will weiterstudieren, sich umschulen lassen
auf englische Buchhaltung und sich dann selbstständig machen.
Im Weatherspoon Pub am Ende der Straße sitzen die Engländer. Ihr Thema: der
Brexit und wie weit es mit „the Nation“ gekommen ist. Winston Sheehan, ein
junger Sozialarbeiter, spricht über Sozialhilfeempfänger aus Osteuropa.
Klar, es gebe auch genug faule Briten, aber die Einwanderung
unqualifizierter Leute sei ein Problem. „Ich habe gelesen, dass in Rumänien
und Bulgarien ganze Bevölkerungsgruppen verschwinden, die jetzt bei uns
arbeiten und dort fehlen.“
Sein Trinkkumpan wägt nicht so vorsichtig ab: „Die Immigranten haben die
Gastfreundschaft der Briten ausgenutzt. Wie sonst hätte es kommen können,
dass man sich als Weißer in Bezirken wie Whitechapel oder Leytonstone gar
nicht mehr blicken lassen kann.“ Osteuropäer seien das eine, aber sich
nicht integrierende Muslime das andere.
## Die Nase voll. So oder so.
Und am Nebentisch meint ein weiterer Biertrinker. „Ich bin ein englischer
Mann der Arbeiterklasse“, seit 29 Jahren im selben Betrieb. Blitzableiter
macht er, und, ja, sein Großvater sei Italiener gewesen, sein Onkel habe
im Weltkrieg für Großbritannien gekämpft. Er betont das mehrmals, bevor
seine Welterklärung Fahrt aufnimmt: Die Einwanderungswelle sei
unaufhaltbar. Die Hälfte der Immigranten seien Sozialhilfeempfänger, die
Politiker Versager. Er habe die Nase voll. So oder so. Er sei reif, selber
zum Migranten zu werden. Australien etwa. „Auch die drei osteuropäischen
Läden in der Straße sind zu viel des Guten.“
In Brent, im Norden Londons, leben noch mehr Migranten als in Barkingside.
65 Prozent, höher ist der Migrantenanteil einer Kommune in England und
Wales nur noch in Newham in Ostlondon. Türkische Restaurants, indische
Sarigeschäfte, englische Cafés und karibische Restaurants liegen hier
nebeneinander. In einem alten Bürokomplex nahe dem Wembley-Stadion hält
Elena Rees mit Angestellten und ihrem Ehemann Sam gerade eine Sitzung.
Seit einigen Jahren leitet die aus Rumänien stammende Frau eine
Vermittlungsstelle für Menschen vor allem aus Osteuropa auf der Suche nach
Qualifikationen in Großbritannien. Auch um Unterkunft und Finanzierung
können sie und ihr Team sich kümmern. Im Brexit sieht sie vor allem: noch
höhere Studiengebühren und noch mehr Einwanderungsbürokratie.
## Die besten Jobs für weiße Engländer
Rees war Grundschullehrerin in Rumänien. Vor 13 Jahren verließ sie ihr
Land, sie war jung, war neugierig, wollte Englisch lernen. „Der Anfang war
schwer“, sagt sie. Eine Weile war sie illegal; mittlerweile hat sie die
britische Staatsbürgerschaft. Trotzdem glaubt sie, dass die europäischen
Einwanderungsbestimmungen zu großzügig sind und es zu einfach ist, in
Großbritannien Sozialhilfe zu bekommen. „Das ist doch der Grund, weshalb
viele hier die Immigranten aus Osteuropa hassen.“ Sie würde jeden, der
etwas Negatives über Osteuropäer zu sagen hat, auffordern, 20 Jobs, die
Einwanderer machen, mit 20 Engländern zu besetzten. „Es würde nicht
klappen.“
Elenas Mann, Sohn eines ägyptischen UN-Gesandten und einer englischen
Mutter, in Großbritannien geboren und aufgewachsen, sieht Parallelen
zwischen dem, was er in seiner Jugend erlebte und heute. „Einerseits
fragten mich viele, ob wir in einem Zelt wohnen und Kamele besitzen,
andererseits war ich ein attraktiver junger Mann.“ Auch heute sei nicht
alles richtig. „Ich erlebe oft, dass Firmen die besten Jobs an weiße
Engländer vergeben und die schweren an Einwanderer.“ Dabei seien, meint
Elena, die Einwanderer oft besser qualifiziert.
Dass es zum Brexit kam, überraschte beide. In Brent stimmten 59,7 Prozent
für den EU-Verbleib. Im benachbarten Londoner Stadtviertel Camden sogar 75
Prozent.
## Letzte Bastion weißer Briten
Obwohl viele Leute in Camden über das Referendum geschockt sind, geben sich
Stammgäste im Sir Robert Peel Pub auf Queens Crescent in Kentish Town
zufrieden. Die Kneipe am Anfang einer alten Marktstraße wirkt zusammen mit
Frank’s Supermarket wie die letzte Bastion weißer Briten im Viertel.
Ihre Nachbarn sind Somalier, Türken, andere muslimische und
nichtmuslimische Einwanderer, die Gemüse verkaufen, Fleisch, das halal ist,
Kebab, Falafel, Fast Food, Krimskrams. Eine Sechzigjährige, sie will ihren
Namen nicht nennen, ist begeistert vom Brexit. „Wenn die Immigranten
endlich dahin zurückgehen, wo sie herkamen, bekomme ich mehr Rente.“
Conrad Bartell am Tisch gegenüber ist pessimistischer. Er erzählt, wie er
hier aufwuchs und auf dem Markt einst Obst und Gemüse verkaufte. Die
Immigranten stören ihn nicht, auch wenn die drei Moscheen in der Gegend für
sich sprächen. Er wünscht sich aber mehr Respekt. Er als ältere Person
müsse oft Jugendlichen aus den Weg gehen. Der Markt hier sei im Zeitalter
der Supermärkte von der Verwaltung nicht genug geschützt worden.
„Für die Jüngeren, wie meine Enkel, ist die Zukunft schwer“, sagt er. “…
studiert, kriegt keine Arbeit, wer eine Ausbildung macht, wird von billig
arbeitenden Einwanderern verdrängt. Und zudem wird unsere Gegend von
reichen Investoren aufgekauft.“ Conrad, der für den Brexit gestimmt hat,
blickt traurig aus dem Fenster. „Früher war es einer der schönsten Märkte
in London“, sagt er.
2 Jul 2016
## AUTOREN
Daniel Zylbersztajn
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