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# taz.de -- Psychoanalytikerin über Sexualitäten: „Viagra ist eine Prothese…
> Die Geschlechterforscherin Ilka Quindeau glaubt nicht an Homo oder
> Hetero. Ein Gespräch über rosa Spielzeug und die innere Genitalität des
> Mannes.
Bild: Auch 30-jährige Männer haben schon blaue Pillen in der Tasche
taz.am wochenende: Frau Quindeau, spielt das Geschlecht für Sie eine Rolle
bei der Auswahl Ihrer Patient*innen?
Ilka Quindeau: Ja, nicht nur unbewusst. Ich weiß natürlich um die
Bedeutsamkeit des Geschlechtlichen.
Wie bewusst?
Ich versuche in meinem Nachdenken über Menschen Geschlechterkategorien
immer wieder zu hinterfragen und in der Tendenz auch aufzulösen. Aber egal,
in welchen Kontexten, ob an der Uni oder in der Therapie: Das Geschlecht
spielt eine zentrale Rolle in unserer Gesellschaft.
Inwiefern?
Ich stelle in meiner Arbeit mit Patient*innen fest, wie überfordert sie von
den rigiden Geschlechternormen sind. Beruflich engagierte junge Frauen
halten sich für Rabenmütter, wenn sie nicht mindestens ein Jahr nach der
Geburt ihrer Kinder zu Hause bleiben. Und junge Männer meinen nach wie vor,
dass sie das Geld für die Familie verdienen müssen. Wenn sie das nicht tun,
halten sie sich für Versager.
Ganz wie früher – hat sich also nichts verändert?
Mir fallen zwei diametral entgegenlaufende Bewegungen auf. Auf der einen
Seite kann man sehen, dass sich die Geschlechternormen angeglichen haben
und größere Freiheit für die Einzelnen zu beobachten ist. Auf der anderen
Seite spielt die Geschlechterdifferenz mehr denn je eine Rolle.
Können Sie uns Beispiele nennen?
Es gibt heute kaum noch eine Schwangere, die nicht weiß, ob sie einen
Jungen oder ein Mädchen erwartet. Und in Spielzeugläden gibt es inzwischen
schon für Säuglinge blaues und rosa Spielzeug.
Ist das in unseren schönen, politisch korrekten Kreisen ebenfalls so?
Dort auch, klar. Als unsere Kinder klein waren, vor 20 Jahren, war das noch
nicht so.
Früher war alles besser?
Nein, aber in den sechziger Jahren – zumindest, was die frühe Kindheit
betrifft bis zur Adoleszenz – sind die Unterschiede zwischen Mädchen und
Jungs deutlich geringer gewesen. Kinder haben zusammen gespielt. Und es war
möglich, dass Jungs die Pullis und Hosen der großen Schwester aufgetragen
haben.
Ungern, sagt mir meine Erinnerung.
Vielleicht, aber schon vor 20 Jahren war das kaum noch möglich. Jetzt ist
es völlig undenkbar. Interessant finde ich vor allem, dass die Frage der
Geschlechterrollen damals viel enger gefasst war. Ich stelle zwei
widersprüchliche Bewegungen, die nebeneinander existieren, fest.
Die wären?
Einerseits sucht man starke Eindeutigkeit. Rosa und Blau. Andererseits ist
es möglich, dass eine so mit den Geschlechtern spielende Figur wie Conchita
Wurst unglaublich populär ist.
Könnte das auch mit den moralischen und materiellen Beutezügen von Frauen-
und Schwulenbewegung zu tun haben? Denen zugehört wird – und von deren
Wünschen nach Geschlechterzwiespältigkeit man sich zugleich entfernen
möchte?
Das könnte sein, die Ambiguität ist faszinierend und bedrohlich zugleich.
Die Verunsicherung nimmt zu. Das ist ja nicht nur mit dem Blick auf das
Geschlecht so, das ist im Blick auf Klimawandel oder die Flüchtlingsfrage
auch so. Klarheit und Orientierung verschwimmen. Wenigstens das Geschlecht
soll noch Orientierung bieten. Man möchte ganz klar sagen können: Das ist
ein Mann, das eine Frau.
Spiegeln sich diese Tendenzen in Ihrer, der psychoanalytischen Disziplin?
Wird überliefert, dass besonders Männer berichten, mehr als früher leisten
zu müssen?
Neulich hörte ich aus meiner Disziplin von einem Patienten, der erzählte,
dass Frauen neue Männer mögen. Und dass sie schätzen, wenn diese auch
weinen können. Weil ihnen danach ist, nicht weil es erwartet wird.
Wie finden Sie denn Männer, die weinen?
Es ist immer wichtig, seinen Gefühlen Ausdruck geben zu können, ganz
unabhängig vom Geschlecht.
Manche Frauen, hört man, befürworten das Ideal der tränenden Männer – aber
mögen Männer, die weinen, trotzdem nicht. Sie sind ihnen zu weich.
Das zeigt, wie tief verankert die Geschlechternormen sind. Vielleicht habe
ich doch zu sehr als Analytikerin geantwortet?
Sind Mütter Komplizinnen der Männer, die hart zu sein haben?
Ich glaube, ja. Vielleicht kann man das Paradox formulieren, dass Mütter
sich die starken Söhne wünschen, die sie dann aber als Partner nicht
wollten. Das Problem ist in der Tat, dass wir nicht einfach aussteigen
können aus dieser alten Geschlechterordnung. Wir werden in sie
hineinsozialisiert.
Ablegen lässt sich sie sich nicht?
Nein. Wir tragen alle das Gepäck der alten Ordnung in uns.
Sie schrieben einmal zur traditionellen Geschlechterordnung, nach der
Männer und Frauen sich wie Nord- und Südpol gegenüberstünden – die
Polkappen seien noch bepackt mit Eis, aber sie hätten zu schmelzen
begonnen.
Ich will nicht allzu pessimistisch erscheinen, aber ich glaube, dass sich
der Widerstand gegen das Schmelzen der Polkappen formiert hat, etwa in der
Weise, dass ja allenthalben die Krise der Männlichkeit ausgerufen wird.
Die es gibt?
Die Rede davon ist für mich im Großen und Ganzen der Versuch, die alten
Privilegien zu retten und zu festigen. Natürlich gibt es Jungen, die unter
dem Schulsystem leiden. Aber Frauen verdienen nach wie vor für gleiche
Arbeit 30 Prozent weniger. Das lässt sich eigentlich durch nichts
rechtfertigen.
Der Männerforschung geht es doch nicht darum, die von Ihnen kritisierten
Privilegien zu retten, sondern darum, herauszufinden, was das Männliche ist
oder sein kann. Ist es nicht seltsam, dass vor allem Frauen zu Männern
forschen?
Manche Kollegen finden das schwierig, wenn ich als Frau über Männlichkeit
forsche, die das als Übergriff empfinden. Ich glaube aber, dass man nicht
über Männer nachdenken kann, ohne Frauen mit einzubeziehen. Man kann ja
auch sagen, dass sich Männlichkeit erst gegenüber von Weiblichkeit
konturiert. Und umgekehrt. Und dann ist natürlich die Frage: Wofür braucht
man das?
Was wäre das Ziel?
Dass die Kategorie Geschlecht überhaupt die Bedeutsamkeit verliert. Dass
man sie nicht weiter mit dieser Macht gesellschaftlich forciert. Aber das
ist das Gegenteil zu dem, was gerade in der Männerforschung passiert. Was
man sehen kann, ist, dass die Differenz permanent in
neurowissenschaftlicher Forschung Bestätigung sucht.
Sie meinen: diese bizarre Suche nach Nanoeinheiten in der Hirnforschung?
Es gibt viel Geld für diese Forschung – und sie ist hoch angesehen.
Ging das nicht schon bei der Suche nach dem sogenannten Schwulen-Gen
schief?
Das sollte man denken. Aber es wird nach wie vor gesucht – weil man es gern
finden würde.
Wissen wir wirklich eigentlich schon viel über das Männliche? Über das
männlich Sexuelle?
Das Interessante weiß man nach wie vor nicht. Was mich nach wie vor
interessiert, ist: Was ist der männliche Innenraum?
Erläutern Sie uns diese Gegend, bitte.
Ich spreche von der inneren, körperlichen Genitalität eines Mannes, die im
unteren Bauchraum angesiedelt ist. Von der Fragwürdigkeit der Idee, dass
die männlichen Genitalien im Wesentlichen außen verortet werden und nur die
weiblichen innen. In den sechziger Jahren hat die amerikanische
Psychoanalytikerin Judith Kestenberg viel hierzu gearbeitet. Sie hat
deutlich gemacht, dass es eine Entwicklungsaufgabe in der Adoleszenz ist –
für beide Geschlechter! –, das innere und das äußere Genitale zu einer
Einheit zusammenzubringen.
Sie meinen die beim Manne vernachlässigte, hoch nervenumwirkte Prostata,
die „gefördert“ werden soll – ein anal starker Faktor?
Es ist eben nicht anal, sondern genital. Dieser körperliche Ort ist auch
eine kulturelle Leerstelle, die gefüllt werden muss. Dieser Innenraum wird
auf Frauen projiziert und bleibt damit den Männern nicht selbst zugänglich.
Das führt zu drastischen Einschränkungen. Zum Beispiel im sexuellen
Erleben, aber dann eben auch im Bereich der Verantwortung für die
Verhütung. Oder denken Sie an diese ganze Generativität, die da mit
dranhängt.
Weiß man über Frauenkörper mehr als über den von Männern?
Deutlich mehr.
Wir wissen inzwischen, immerhin: Frauen spritzen beim Orgasmus auch ab.
Ja, über die weibliche Ejakulation gibt es einige Forschungen. Und zu
Männern gibt es unglaublich viel Forschung zur Erektion, etwa zu den ganzen
prothetischen Geschichten vor Viagra, Schwellkörperinjektionen und so
weiter. Aber was die Prostata betrifft: nichts! Ist das nicht irrwitzig,
wenn man sich mal anguckt, wie viele Prostatakrebserkrankungen es gibt?
Männer gehen auch ganz wenig zur Vorsorge, und diese fehlende Selbstumsorge
hat vor allem viel mit Unkenntnis oder Scham zu tun.
Verinnerlichte Homophobie, weil der anale Bereich mit Homosexuellem
identifiziert wird?
Natürlich. Wie wichtig wäre es, dass man in dieser Hinsicht ein Bewusstsein
schafft. Gynäkolog*innen sind selbstverständlich. Aber für Männer? Nichts.
Urologen sind ja keine Andrologen. Dass es keinen Facharzt gibt, zu dem
Jungen gleich in der Adoleszenz gehen können – und auf selbstverständliche
Weise mit ihren reproduktiven Körperfunktionen in Kontakt gebracht werden:
Das ist traurig. Das kann man nämlich als Mutter nicht leisten, als Vater
vielleicht ein bisschen eher, doch ist es in diesem Bereich immer wichtig
zwischen Eltern und Kindern, die Grenzen zu wahren.
Weshalb möchten Eltern nicht, dass ihre Kinder homosexuell sind?
Alle Eltern wünschen sich, dass ihre Kinder möglichst einfach durchs Leben
kommen und nicht diskriminiert werden. Das ist nach wie vor leider nicht so
als schwuler oder lesbischer Mensch.
Verlagern Sie den Konflikt nicht nach außen? Wollen Eltern nicht vor allem,
dass ihre Kinder so werden, wie sie selbst sind – heterosexuell?
Dass man den unbewussten Wunsch hat, sich in den Kindern oder Enkelkindern
unsterblich zu machen, das ist in der Tat eine psychoanalytische Annahme.
Diese Fantasie ist natürlich dann auch zu Ende, wenn sich die Kinder gegen
Kinder entscheiden …
Frau Quindeau, hat sich die Geschlechterordnung, jedenfalls in männlicher
Hinsicht, durch Viagra geändert?
Absolut. Das Klischee lautet, dass es ein Mittel älterer Männer sei – aber,
so höre ich es aus der Forschung, das stimmt nicht. Auch junge Männer sind
permanent mit Viagra unterwegs, um Dauerbereitschaft zu performieren. Es
klingt unglaublich: Dreißigjährige, die die Pille in der Tasche haben.
Warum tun sie das?
Um ihre Sexualität möglichst wenig störungsanfällig zu machen. Sie wollen
sich unabhängig machen von den Frauen, nicht durch sie erregt werden,
sondern die Erektion selbst herstellen. Eine Autonomie, die mit
Medikamenten abgesichert wird.
Sie wollen vor der Frau nicht versagen?
Sie wollen sich nicht von der Frau stimulieren lassen, sie wollen sich
selber stimulieren. Eigentlich ist ja die Idee des Sexuellen, dass man sich
dem anderen überlässt – und dann guckt, was daraus wird. Das ist in der
Performance mit Viagra nicht nötig. Sie wissen, dass sie das irgendwie
alleine hinkriegen.
Die Sexualwissenschaftlerin Sophinette Becker nannte Viagra mal eine Art
„Anschubfinanzierung“, um die Angst vor dem Versagen zu verlieren.
Das kommt dem sehr entgegen, aber es geht nicht nur um das Versagen,
sondern um die Autonomie, die doch beim Sex eigentlich gerade aufgehoben
werden kann.
Hat das auch was mit erotischen Bilderfluten aus dem Netz zu tun?
Zweifelhaft. Wenn Pornografie immer funktionieren würde, bräuchte man kein
Viagra.
Vielleicht war die männliche Erektion nie so, wie man immer behauptet hat,
dass sie sei.
Davon gehe ich aus, klar. Männer waren noch nie Maschinen und werden es
auch nie sein. Viagra ist eine Prothese. Und das Bedürfnis nach ihr zeigt
einfach, wie stark der Wunsch bei Männern internalisiert ist, im Bereich
des Sexuellen zu genügen. Die Erwartungen sind offenbar groß. Und niemand
scheint davon frei.
Wird die Zukunft heteronormativer oder queerer?
Sowohl als auch: Der Trend wird sich fortsetzen, dass die
Geschlechterdifferenz einerseits an Bedeutung zunimmt und andererseits aber
auch die sexuelle und geschlechtliche Vielfalt selbstverständlicher werden.
Da bin ich zuversichtlich, dass diese Freiheiten und Ambiguitäten sich
verteidigen lassen – aber auch verteidigt werden müssen.
16 Jul 2016
## AUTOREN
Jan Feddersen
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