# taz.de -- Nach dem Terror von Orlando: Habt ihr uns wirklich lieb? | |
> Die Zeiten für Minderheiten sind nie wirklich gut. Aber das Massaker von | |
> Orlando fällt in eine Phase, in der in der Community wieder Ängste | |
> wachsen. | |
Bild: Gedenken in New York an die Opfer von Orlando | |
So lange ist es noch nicht her, Anfang der Neunziger trug sich diese Szene | |
zu. „Man müsste ihnen glühende Eisenstangen in den Arsch rammen“, sagte d… | |
blonde junge Mann und zündete sich eine Zigarette an. | |
Es war ein Sommerabend in einer mittleren deutschen Stadt, und der blonde | |
junge Mann trug unglaublich kurze Hosen, die seine muskulösen Oberschenkel | |
zur Geltung kommen ließen. Mit „ihnen“ meinte der blonde Schöne | |
Homosexuelle. Es handelte sich um einen Ausbruch von Homophobie, wie er im | |
Lehrbuch steht. | |
Zu dritt hatten wir dort herumgestanden, drei Männer, die einander flüchtig | |
kannten. Ohne irgendeinen Anlass hatte der Blonde seinen Gewaltfantasien | |
freien Lauf gelassen. Der Dritte im Bunde, ein Psychologiestudent, | |
zwinkerte mir amüsiert zu – er hatte das Problem souverän durchschaut: | |
eigenes, verdrängtes homosexuelles Begehren, das in blinde Aggression | |
umschlug. | |
Was nun beide nicht wussten: Ich war auch einer von denen, die mit der | |
Eisenstange penetriert werden sollten, traute mich zu diesem Zeitpunkt | |
aber noch nicht, dies mir selbst oder gar meiner Familie oder meinen | |
Freunden einzugestehen. Da war nur ein Gefühl von Scham und Schuld, eine | |
dunkle Kraft ganz fern der Liebe, vor allem der Selbstliebe. Und: Angst. | |
## Kampf um die Deutungshoheit | |
In der Woche nach dem Anschlag auf den LGBTTIQ*-Club Pulse in Orlando | |
herrschte ein Durcheinander der Gefühle. Es gab Betroffene, Wütende, | |
Abgestumpfte und auch solche, die angesichts des unerfreulichen | |
Weltgeschehens lieber Fußball schauen wollten. Es gab einen [1][Kampf um | |
die Deutungshoheit]: War es ein homophober, ein islamistischer, ein | |
terroristischer oder einfach nur ein weiterer Anschlag eines Irren, der | |
sich problemlos in den USA Waffen kaufen konnte? | |
Und dann gab es noch eine Debatte über [2][Trauerkultur in Deutschland], | |
die nach fast einer Woche ein halbwegs gutes Ende gefunden hat: Nach Paris, | |
New York und Bielefeld wird nun auch das Wahrzeichen der deutschen | |
Hauptstadt, das Brandenburger Tor, in den Farben des Regenbogens | |
angestrahlt. | |
Sogar die Bundeskanzlerin konnte sich am Freitag dazu durchringen, die | |
Worte „Schwule und Lesben“ im Zusammenhang mit Orlando doch noch in den | |
Mund zu nehmen, nachdem sie kritisiert worden war: Nörgeln und nerven | |
musste die LGBTTIQ*-Community in Deutschland, damit jemand mal kurz das | |
Licht anknipst und ihren Namen nennt, und am Ende fühlt es sich dann an wie | |
ein Liebesbekenntnis, das man erbetteln musste oder gar mithilfe | |
moralischer Daumenschrauben erpresst hat. Habt ihr uns auch wirklich lieb? | |
Solidarität zu bekunden kostet eigentlich nichts, aber es gibt eben | |
Menschen, die nichts zu verschenken haben. | |
## Ernst genommen werden | |
In Großbritannien ließ sich der Thronfolger in der Woche nach Orlando für | |
den Titel des Schwulenmagazins Advocate ablichten, um seine Solidarität zu | |
demonstrieren. Freiwillig. In den USA war es für Barack Obama ganz normal, | |
spontan diesen Satz zu sagen: „This is an especially heartbreaking day for | |
our friends and fellow Americans who are lesbian, gay, bisexual or | |
transgender.“ | |
Kleine Gesten, große Wirkung. Das Gefühl, nicht alleine zu sein, ernst | |
genommen und notfalls auch beschützt zu werden hilft gegen Angst. Fast alle | |
Minderheiten haben in ihrem Leben Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen | |
gemacht, auch wenn sie meist darüber schweigen. In der Öffentlichkeit mag | |
der Eindruck entstehen, dass Homosexuellenverbände und AktivistInnen | |
überproportional nerven, Homophobie hier, Rassismus und Sexismus dort. | |
LGBTTIQ* – allein schon diese Wort- und Buchstabenungetüme, ein Getrommel, | |
ein Gewese. Im Alltag jedoch wird man wenigen queeren Menschen begegnen, | |
die über diese Erfahrungen und Ängste sprechen. Sogar untereinander sind | |
sie weitgehend tabu. | |
## Erfolgreich und muskulös | |
Ich erinnere mich an eine gemütliche Runde, ein paar Jahre erst ist das | |
her: Großstadtschwule unter sich, alle irgendwie erfolgreich, gut aussehend | |
und muskulös. Plötzlich fingen sie an, erstmals zu erzählen, nach Jahren | |
der Vertrautheit: von den Demütigungen, Überfällen und Ohrfeigen. Vom | |
Angespuckt- und Angezischtwerden auf offener Straße. Sie erzählten von | |
Angst und Scham, nur einen Abend lang. | |
Es ist nicht cool, Opfer zu sein. Es passt auch nicht zur mühsam | |
errungenen, stolzen Selbsterzählung, dem Facebook-Ich, das gerade vom | |
Flughafen kommt und nach dem Gym noch in den Club will. Auch möchte man | |
sein heterosexuelles Gegenüber nicht ständig kompromittieren, gar auf die | |
Anklagebank setzen. Wer von einem kollektiven „Wir“ erzählt, schafft auch | |
ein „Ihr“. Schafft Distanz, obwohl man doch dazugehören will. Ein | |
Widerspruch, der sich schwer auflösen lässt. | |
Und dann sind da plötzlich die Bilder aus Orlando, die sich für viele von | |
uns anfühlen wie ein wahr gewordener Albtraum. Glühende Eisenstangen. In | |
der US-Serie „Queer as Folk“, der ersten wichtigen Mainstreamsendung, die | |
in den Nullerjahren den Alltag von Schwulen und Lesben thematisierte, gab | |
es einen Anschlag auf das Babylon, einen Gayclub. Es gab viele Tote, aber | |
wer die Bombe gelegt hatte, weiß ich gar nicht mehr. Evangelikale? | |
Islamisten? Konservative Katholiken? Orthodoxe Juden? Russische | |
Nationalisten? Neonazis? War es ein Vater, der seinem schwulen Sohn nach | |
dem Leben trachtete? Oder ein verhinderter Homosexueller, der seinen | |
Selbsthass mit christlichem Fundamentalismus bemäntelte, um möglichst viele | |
Sünder ins Jenseits zu befördern? | |
Es gibt so viele Menschen, die LGBTTIQ* hassen, und so viele Institutionen, | |
die diesen Hass noch immer befördern. Aber ich habe nun extra noch mal | |
nachgeschaut: Wer die Bombe im Babylon gelegt hat, wird in der Serie gar | |
nicht klar. Vielleicht hat man die Frage der Täterschaft mit Absicht im | |
Vagen belassen, um hässliche, wiederum ausgrenzende Debatten und | |
Instrumentalisierungen zu vermeiden. | |
## Alarmierender Anstieg von Homophobie | |
Die Zeiten für Minderheiten sind eigentlich nie wirklich gut, aber das | |
Massaker von Orlando fällt in eine Zeit, in der vielerorts Ängste wachsen. | |
Auch in Deutschland gibt es einen Rechtsruck, nicht wenige queere Menschen | |
fürchten, dass ihre Anliegen in Zukunft geopfert werden, um Druck aus dem | |
Kessel zu nehmen. Manche dieser Befürchtungen mögen überspannt wirken, aber | |
einige dieser Menschen haben auch ein unschöne Geschichte hinter sich. Der | |
Paragraf 175 – für die Homosexuellen war die Nazizeit erst 1969 beendet. | |
Aids – eine Epidemie, deren Erleben manche der Schwulen, die sie überlebt | |
haben, mit einer Art Krieg vergleichen. | |
Angst ist kein guter Ratgeber. Sich beleidigt oder furchtsam in eine | |
Schneckenhaus zurückzuziehen wird die Probleme nicht lösen. Gerade erst | |
wurde in der Leipziger Studie „Die enthemmte Mitte“ ein alarmierender | |
Anstieg von Homophobie festgestellt. Die Studie ist umstritten, so wie fast | |
alle Studien. Aber auch ohne sie kann man wissen, dass es in diesem Land | |
wieder salonfähig geworden ist, über Minderheiten „endlich mal zu sagen“, | |
was man denkt. Und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat | |
gerade entschieden, dass es keineswegs ein „Menschenrecht auf die Homo-Ehe“ | |
gibt, also kein einklagbares Recht auf eine Eheschließung. | |
Der LGBTTIQ*-Community wird es auch in Zukunft nicht erspart bleiben, zu | |
nörgeln und zu nerven – also ihre Interessen als Minderheit zu vertreten. | |
Wenn ich die eingangs erwähnte Sommerabendszene heute erleben würde, dann | |
hätte ich ganz sicher einen Spruch auf den Lippen, um den Blonden in seine | |
Schranken zu weisen. Aber, wie sich zeigt: Stärkeres Selbstbewusstsein von | |
Einzelnen reicht nicht. Auch der Psychologiestudent darf Homophobie nicht | |
schweigend hinnehmen. | |
18 Jun 2016 | |
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## AUTOREN | |
Martin Reichert | |
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