# taz.de -- Debatte Zukunft als Menschenrecht: Die Zurückeroberung der Zukunft | |
> Haben wir die Zukunft zu früh abgeschafft? Asyl müsste ausnahmslos allen | |
> Menschen ohne Zukunft gewährt werden, wäre sie Menschenrecht. | |
Bild: Ankunft in Lesbos im März 2016 | |
Gibt es eigentlich ein Naturrecht, ein Menschenrecht auf Zukunft? Also auf | |
etwas, das mehr ist als ein bloßes Überleben, ein Weitermachen, ein | |
Nichtsterben? Nämlich einen Raum der Möglichkeiten, der Entscheidungen, der | |
Veränderungen. Ein Weg ins Offene. Mensch sein heißt Zukunft haben, und | |
alles, was die Zukunft raubt, darf unmenschlich genannt werden. | |
Die Eingangsfrage ist mehr als eine bloße Gedankenspielerei angesichts | |
einer politischen Kultur, die sich mit dem Wirken von Sachzwängen, | |
Marktbewegungen und des TINA-Prinzips (There is no Alternative) abgefunden | |
zu haben scheint. Und wo immer mehr Menschen vor lauter Angst und | |
Verachtung gegenüber der Zukunft in die Vergangenheit zurück wollen. In die | |
Vergangenheit vor jener Moderne, die von sich behauptet hat, auf nichts so | |
versessen zu sein wie auf Zukunft. | |
Zukunft haben, die Möglichkeit, aus eigener Kraft und mit der Hilfe von | |
anderen Lebensumstände, Machtverhältnisse und Entscheidungsräume zu | |
verändern, die Hoffnung darauf, von der Fremd- zur Selbstbestimmung zu | |
gelangen, aber eben auch Ideen, Fantasien, Träume zu entfalten ohne Furcht | |
und ohne Zwang, kann zweierlei bedeuten: Das Privileg weniger oder das | |
Recht aller. Die Entscheidung zwischen beidem reicht in jeden | |
Lebensbereich. | |
Ein Beispiel: Wenn es ein Menschenrecht auf Zukunft gibt, dann ist die | |
Unterscheidung zwischen „Verfolgten“ und „Wirtschaftsflüchtlingen“ obs… | |
und heuchlerisch. Die sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge fliehen nicht zu | |
den größeren Fleischtöpfen im anderen Land, sondern in aller Regel vor der | |
Zukunftslosigkeit ihrer Existenz: Keine Arbeit, keine kulturelle und | |
politische Freiheit, keine eigenen Erfahrungen und Entscheidungen, keine | |
Würde. Und oft nicht einmal genug zu essen. Asyl müsste ausnahmslos allen | |
Menschen ohne Zukunft gewährt werden, wenn diese ein Menschenrecht wäre. | |
Wenn es allerdings kein Menschenrecht auf Zukunft gibt, dann erweist sich | |
unser schönes demokratisch-kapitalistisches System als Chimäre. Freiheit | |
ist nur etwas wert, wenn es eine wirkliche Zukunft gibt: nicht Verlängerung | |
der Gegenwart, sondern einen Raum für Entscheidungen, Fantasien und Ideen. | |
## Das Gegenteil von Zukunft | |
Alle Waren, Parteien, Dienstleistungen und Unternehmungen blubbern | |
unentwegt „Zukunft“ und meinen damit genau das Gegenteil. Eine | |
Marktwirtschaft hat dann jede Legitimation verloren, wenn sie immer mehr | |
Menschen ärmer und immer weniger Menschen reicher macht und wenn sie | |
Zukunft im Sinne ihrer Maschinen und Techniken definiert und nicht im Sinne | |
der Menschen. Wer kein Recht auf Zukunft hat, dem ist auch mit anderen | |
Menschenrechten kaum gedient. | |
Die Abschaffung der Zukunft scheint es also in einer Luxus- und in einer | |
Elendsversion zu geben. Einmal in der ewig um sich selbst kreisenden Logik | |
von Verschuldung, Wachstum, Wettbewerb und Konsum, und einmal in | |
Ausbeutung, Terror, Krieg und Rechtlosigkeit. Natürlich kann man das eine | |
nicht mit dem anderen aufrechnen, sondern muss fragen, wie das eine mit dem | |
anderen zusammenhängt. | |
Zukunft war einmal etwas Grandioses, bevor sie in kleine Alltags- und | |
Technologiezukünfte aufgelöst wurde. Noch im Mittelalter hatte das Wort | |
eine religiöse Bedeutung, als Zeit der Wiederkehr Gottes. Zukunft verband | |
sich später mit den Utopien, mit dem Erreichen des gesellschaftlichen | |
Idealzustands, dem Paradies der Arbeiterklasse oder vielmehr einer Welt | |
ohne Arbeit: eine säkularisierte Heilserwartung. | |
Soll aber Zukunft sein, dass die Fernseher so groß wie die Wohnzimmerwand | |
sind, dass Datenbrillen den Weg zur nächsten Pizzeria weisen? Oder soll das | |
Zukunft sein, dass man sich um Leib und Leben arbeitet, nur um noch tiefer | |
in Schulden und Abhängigkeit zu geraten? Natürlich ist die Zukunft auch der | |
Ausdruck der Fehler, der Verbrechen, der Gewalt und nicht zuletzt der | |
Dummheit dessen, was gerade noch Gegenwart war. Je mieser ein System, desto | |
mehr verbietet es das Denken an eine Zukunft, die etwas anderes ist als | |
immer noch mehr von diesem System. | |
## Etwas Unvernünftiges und Chaotisches | |
Das Denken an ein wirklich nächstes Kapitel ist in den Verdacht der | |
kindlich-romantischen Schwärmerei geraten. Ist digital nicht jede beliebige | |
Zukunft als Simulation herzustellen? Grammatisch und technisch kommt sie so | |
oder so, die Zukunft; wer sich gegenwartskonform verhält und am richtigen | |
Ende der Welt geboren ist, der bekommt ganz nach Bedarf Zukunft als | |
Simulacrum-Droge. In der Wirklichkeit aber ist Zukunft etwas Unvernünftiges | |
und Chaotisches. | |
Die Undenkbarkeit der Zukunft, die mit Francis Fukuyamas „Ende der | |
Geschichte“ noch die tröstlich-langweilige Gewissheit versprach, dass „die | |
liberale Demokratie und die Marktwirtschaft die einzig tragfähigen | |
Möglichkeiten für unsere modernen Gesellschaften sind“, löst sich derzeit | |
in Panik auf: Die liberale Demokratie scheint im rapiden Schwinden | |
begriffen, und die Marktwirtschaft, an deren Freiheit schon lange niemand | |
mehr glaubt, übt sich in der Kunst des An-die-Wand-Fahrens. Die ewige | |
Gegenwart könnte nun nur noch heißen: Ewige Krise. Ewiger Terror. Ewige | |
Dummheit. | |
Wo ist nun die Zukunft, jetzt, wo wir sie wieder brauchen könnten? Haben | |
wir sie zu früh abgeschafft? Vielleicht gibt es jetzt neue Argumente dafür, | |
Zukunft zum Menschenrecht zu erklären. Es ist dem Kapitalismus nie | |
gelungen, den Menschen die Angst vor einer Immer-so-weiter-Zukunft zu | |
nehmen. Fatalerweise ist es ihm aber beinahe gelungen, den Menschen auch | |
vor jeder anderen Zukunft Angst zu machen. So blieben fast nur die | |
Fraktionen derer, die sich in der ewigen Gegenwart von Arbeit und Konsum | |
einrichten, und derer, die zurück in die Vergangenheit drängen. Dazu kommen | |
Gruppen von jenen Ehrenwerten, die versuchen, das Schlimmste zu verhindern. | |
Doch es geht um mehr: Die Denkbarkeit der Zukunft muss zurückerobert | |
werden. Als Menschenrecht. Auf der ganzen Welt. In gemeinsamer Arbeit. Die | |
Zukunft bringt vielleicht kein Heil, aber sie ist voraussichtlich doch zu | |
schön, um sie Google, AfD und der Deutschen Bank zu überlassen. | |
20 Jun 2016 | |
## AUTOREN | |
Georg Seeßlen | |
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