# taz.de -- Friedensbewegung und Bundeswehr: Die Unverdrossenen | |
> Tot ist die Friedensbewegung noch lange nicht. Die Bürgerinitiative | |
> Offene Heide wird für ihr 23 Jahre andauerndes Engagement geehrt. | |
Bild: Der Friedensweg vom 3. Juni 2016 führt über die Bundesstraße 71, die w… | |
Letzlingen taz | Ein Friedensweg ist kein Spaziergang. Helmut Krust rinnt | |
nach wenigen Metern der Schweiß über die Stirn. Mit gebeugtem Gang beeilt | |
sich der 68-Jährige, nicht den Anschluss zu verlieren. Das fünfzehn Meter | |
lange Transparent mit der Aufschrift „Pace“ zieht sich vom Kopf, wo die | |
rüstigeren Mitstreiter der Bürgerinitiative Offene Heide das Tempo | |
vorgeben, über das Mittelfeld mit den Kuchenboxen bis hin zu Helmut Krust. | |
Gut vierzig Bundeswehrgegner eilen, einem bunten Lindwurm gleich, über den | |
Asphalt. Der Frust mancher Autofahrer wird sich bald in eindeutigen Gesten | |
entladen. Und das liegt nicht nur an dem Hindernis, das sich hier im Norden | |
Sachsen-Anhalts so unerwartet auftut, sondern auch an politischen | |
Differenzen. Die kleine Schar will mit ihrem Gang schließlich die | |
Bundeswehr vertreiben. | |
Heute nimmt sie den 276. Anlauf, und es ist ein außergewöhnlicher dazu. | |
„Wie viele Kilometer muss man laufen, um einen Preis zu bekommen?“, hatte | |
einer zu Beginn der Wanderung gefragt. Wenn man vier Kilometer als | |
Mindeststrecke pro Friedensweg annimmt, kommt man auf weit über tausend | |
Kilometer in 23 Jahren. Inzwischen dürfte es sich um die älteste, | |
regelmäßige Protestkundgebung gegen die Bundeswehr handeln. Die | |
Beharrlichkeit und der Mut der Bürgerinitiative Offene Heide „verdienen | |
Respekt und unsere Solidarität“, begründet der Verein Aachener | |
Friedenspreis seinen Entschluss, diese 2016 mit dem Friedenspreis zu ehren. | |
## Der Protest ist geschrumpft | |
Helmut Krust aus dem nahen Dorf Letzlingen, der früher in einem | |
Forstbetrieb tätig war, wirkt allerdings nicht so, als würde ihn der Preis | |
sonderlich beeindrucken. Der Rentner hat so gar nichts an sich von einem | |
Aktivisten. Keine Warnweste mit einem durchgestrichenen Panzer, wie sie | |
andere hier tragen, keine Flugblätter, kein Plakat. Helmut Krust schleppt | |
nur sich selbst mit – und seinen Unmut. | |
Den Unmut darüber, dass sich die Bundeswehr die 230 Quadratkilometer Heide | |
einfach genommen hat, als die Russen abgezogen waren. Obwohl der Landtag | |
von Sachsen-Anhalt dagegen war, obwohl zwei Kreistage dagegen waren, obwohl | |
hundert Anrainergemeinden dagegen waren. In der Heide, einst Jagdgebiet der | |
preußischen Könige, später von Wehrmacht und Sowjetarmee weitgehend | |
abgeholzt, sollte ein Naturpark wachsen. | |
Beim ersten Friedensweg am 1. August 1993 seien so viele Menschen auf den | |
Beinen gewesen, „die konnte man gar nicht zählen“, erinnert sich Krust. | |
Heute ist das kein Problem. 42 Männer und Frauen laufen unverdrossen, der | |
Protest ist geschrumpft. „Die Letzlinger sind doch überwiegend für die | |
Bundeswehr“, sagt Krust. „Da sind schon Freundschaften | |
auseinandergegangen.“ | |
Die Fläche sei einfach verlockend, brummt er, und es klingt nicht einmal | |
bekümmert, eher fatalistisch. Hinter seinem Dorf liegt seit 2001 das | |
Gefechtübungszentrum, ein Hightech-Stützpunkt, errichtet und betrieben vom | |
Düsseldorfer Konzern Rheinmetall. Von dort aus stoßen die Soldaten mit | |
ihren „Leoparden“, „Mardern“, „Füchsen“ und wie die Vehikel sonst … | |
heißen, in den Übungskrieg, hinein in die menschengemachte Steppe, wo sie | |
mit Laser und Pyrotechnik übereinander herfallen und Gefechte simulieren, | |
die sie später an Bildschirmen, groß wie Kinoleinwände, auswerten, als | |
wären es Computerspiele. | |
## Mini-Puff im Wald | |
„Die Holländer üben gerade“, vermeldet Helmut Krust, da biegt der kleine | |
Zug an einem Wohnwagen in den Wald ab. „Wackelwagen“ nennt Krust den | |
Anhänger. So nennen ihn alle im Dorf. Jetzt ist das Gefährt verschlossen, | |
hinter den Fenstern sind Matratzen zu sehen. Am Abend öffne der Mini-Puff | |
wieder, und dann komme es vor, dass die Freier anstehen, erzählt Krust. | |
Derzeit natürlich auch Holländer. | |
Das ist wohl nicht der Aufschwung, den sich die Kommunalpolitiker erhofft | |
haben. Einer nach dem anderen ließ sich vor zwanzig Jahren von der | |
Bundeswehr den Protest abschwatzen – Aufschwung, Arbeitsplätze, | |
Investitionen. Einer nach dem anderen – vom Landtag bis zum Ortschaftsrat – | |
schwenkte um, schwieg fortan oder lobte die neuen Herren. „Wir leben hier | |
sehr gut mit der Bundeswehr“, beteuerte die Ortsbürgermeisterin von | |
Letzlingen. Und von den einst vierhundert Friedenswanderern blieben vierzig | |
übrig. Aus Letzlingen ist nur noch selten einer dabei – bis auf Helmut | |
Krust. | |
Der Friedensweg setzt sich im kühlen Wald fort, Dunst steht über dem Gras. | |
Malte Fröhlich hat das Regenbogenband zu einem Ballen zusammengelegt. Hier | |
im Wald stört das Transparent. Fröhlich, 49 Jahre alt, ist ein | |
vierschrötiger Typ mit Stoppelhaaren und Stoppelbart. Über das breite Kreuz | |
hat er die Warnweste mit dem durchgestrichenen Panzer geworfen. | |
Der Holzbildhauer und Spezialist für Spielgeräte wirbt auf seiner Homepage | |
damit, dass von seinen Holzgeräten „eine freundliche Wärme ausgeht, die | |
geeignet ist, Aggressivität vorzubeugen“. Das lässt sich von Malte Fröhlich | |
selbst auch sagen. Von Anfang an dabei, ist er einer der Konstanten des | |
Friedensweges. An jedem ersten Sonntag im Monat treffen sich die Teilnehmer | |
und ziehen in Richtung Truppenübungsplatz, bis zum Zaun und manch einer | |
darüber hinaus, als wollten sie der Bundeswehr Nadelstiche verpassen. | |
## Panzer rollen über Trinkwassergebiet | |
Es hat dennoch nicht den Anschein, dass sie die Militärs bald vertreiben. | |
Im Gegenteil. Im Norden des Übungsgeländes wächst „Schnöggersburg“ in d… | |
Himmel – eine Phantomstadt für 100 Millionen Euro mit Hochhäusern, | |
Diplomatenviertel, Elendsquartieren, Stadion und U-Bahn. Im nächsten Jahr | |
sollen die Soldaten in dieser Kulisse erstmals den Kampf gegen | |
Aufständische trainieren. Der Wandel der Bundeswehr von einem | |
Verteidigungsheer zu einer Interventionsarmee – hier wird er vollendet. | |
Der Waldweg hat sich zu einem Trampelpfad verdünnt. Plötzlich taucht eine | |
Lichtung auf, wie eine Märchenlandschaft. Die Sonne gleißt. Schilfgras und | |
Fingerhut wiegen sich sanft, Birken stehen ringsum, und in der Mitte liegt | |
ein Tümpel voller Wasserlinsen. „Der Kohlsoll“, sagt einer laut, das | |
heutige Ziel. Jeder Friedensweg hat ein Thema. Heute sind es die Sölle. | |
Dutzende solcher Gewässer soll es auf dem Truppenübungsplatz geben, | |
wichtige Wasserstellen, die trotz aller Beteuerungen der Bundeswehr bedroht | |
sind. Hinzu kommt, dass die Panzer hier seit Jahrzehnten über ein | |
Trinkwasserschutzgebiet rollen. | |
Die Gruppe lässt sich ins Gras fallen. Der älteste Wanderer, Pastor Martin | |
Gregor, Jahrgang 1931, hat allerdings Mühe damit, Stühle gibt es nicht. | |
Malte Fröhlich zieht den regenbogenfarbenen Stoffballen hervor und schiebt | |
ihn Gregor als Kissen unter. „Die Präsidentensuite!“, scherzt Fröhlich. | |
Der Pastor, ein agiler Ruheständler mit klarer Stimme, hat schon vor | |
Jahrzehnten gegen die SED und die Militarisierung der DDR gewettert, hat | |
die sowjetischen SS-20-Raketen verdammt – und findet sich heute zwischen | |
einstigen SED-Genossen wieder. | |
Einer dieser Genossen ist Achim Spaeth aus Magdeburg. „Ich war früher der | |
Ansicht, der Friede muss bewaffnet sein“, erzählt der 65-Jährige. Heute | |
hält es das Mitglied der Linkspartei mit dem „Schwerter zu Pflugscharen“ | |
der Kirchen, das er einst wohl bekämpft hat. Dass erst vor wenigen Tagen | |
US-Soldaten bei ihrer Fahrt zum Manöver nach Polen vor dem Militärmuseum in | |
Dresden posiert haben, findet Spaeth skandalös. | |
## In die Jahre gekommen | |
„Wie weit ist es bis zum Zaun?“ – „Circa siebenhundert Meter!“ ruft H… | |
Adolf über das Röhricht. Adolf, ein ruhiger Typ mit rotem Basecap, ist ein | |
kundiger Scout. Von 276 Friedenswegen hat er 275 mitgemacht. Seitdem Adolf | |
in Berlin wohnt, hat er auch die weiteste Anreise. Er kommt mit dem Zug, | |
doch die letzten Kilometer radelt der 58-Jährige immer. Warum er sich alle | |
vier Wochen auf den Weg macht? „Muss man ja“, sagt Adolf trocken. „Uns | |
wurde immer vorgeworfen, als DDR-Bürger Mitläufer gewesen zu sein.“ | |
Wie die meisten hier wirkt Adolf geradezu stoisch. Die vielen Friedenswege | |
scheinen ihn nicht zu ermüden. Tot ist die Friedensbewegung jedenfalls | |
nicht. Aber grau ist sie geworden. Der mit Abstand Jüngste ist der | |
schlaksige Polizist, der die Wanderer bis zum Schluss wie Sträflinge im | |
Auge behält. Stimmt nicht, widerspricht ein Künstler mit grauem Haar. Die | |
Jüngeren seien nur keine großen Wanderer. Sie kommen Ende Juli wieder zum | |
Protestcamp „War starts here“, mit Aktionen, Workshops, zivilem Ungehorsam, | |
mit Kunst und Kultur. Es geht weiter. | |
Nach drei Stunden ist der 276. Friedensweg Geschichte. Helmut Adolf steigt | |
als einer der Letzten auf sein Rad. Der nächste Weg findet am 3. Juli | |
statt, Thema: Kreatives Transparentemalen. Es hat, bei aller Routine, | |
dennoch etwas Magisches. Es ist der Kampf Klein gegen Groß, David gegen | |
Goliath, Wasser bricht Stein. Eine Weisheit, die Generälen in der Regel | |
verborgen bleibt. Alle Armeen, die bisher hier geübt haben, sind nicht als | |
Sieger abgezogen, hat einer gesagt. Man kann es als Prophezeiung nehmen. | |
13 Jun 2016 | |
## AUTOREN | |
Thomas Gerlach | |
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