| # taz.de -- Filmstart „Junges Licht“: Kumpel mit steifem Bein | |
| > Früher war’s auch nicht so modern: Adolf Winkelmanns Verfilmung von Ralf | |
| > Rothmanns Roman erzählt von einer Kindheit im Ruhrpott. | |
| Bild: Feinripp rules okay: Julian (Oscar Brose) und Vater Walter (Charly Hübne… | |
| Jede Menge Kohle: Noch rattern und bohren, stemmen und schwitzen, malochen | |
| die Kumpel unter Tage. Wie schmutzstarrende Helden treten sie aus dem | |
| Fahrzug, der sie aus der dritten Sohle wieder ans Tageslicht gebracht hat. | |
| Eine Schicht mehr abgerissen, eine Schicht mehr ohne Un- oder gar | |
| Todesfall. | |
| Stolz der Arbeiterklasse: Hier, im Pott, röhrte einst der Antriebsmotor | |
| Westdeutschlands – und die Kumpel hielten ihn unter Einsatz ihres Lebens am | |
| Laufen. Bevor ab den sechziger Jahren unter Tränen und Schmerzen das | |
| langwierige Zechensterben einsetzte. | |
| Von dieser Krise fehlt in „Junges Licht“ noch jede Spur. In seiner | |
| Verfilmung von Ralf Rothmanns gleichnamigem Roman aus dem Jahr 2004 erzählt | |
| der seit seiner Slackerkomödie „Die Abfahrer“ (1978) als Ruhrpott-Auteur | |
| geführte Regisseur Adolf Winkelmann von einem Sommer einer Ruhrpottkindheit | |
| mit rauchenden Schloten vorm Balkon. Ein Erinnerungsfilm über eine Welt, | |
| die so gründlich verloren gegangen ist, dass der Regisseur seine liebe Not | |
| hatte, sie am Computer zu rekonstruieren: Der alte Industriebarock in | |
| „Junges Licht“ ist ein Kompositum der Aufnahmen verschiedener noch | |
| verbliebener Bergwerke. | |
| Im Mittelpunkt steht Julian (Oscar Brose), der gerade von der Kindheit in | |
| die Pubertät abzweigt. Von den Eltern vernachlässigt genug, um sich die | |
| Welt auf eigene Faust zu ertasten, aber noch so weit eingebunden in die | |
| Familie, dass es für Einschüchterungen und Züchtigungen reicht. Trotzdem | |
| kümmert er sich um seine kleine Schwester. Der Vater (Charly Hübner) | |
| schuftet unter Tage, die Mutter (Lina Beckmann) züchtet Koliken und lässt | |
| den Frust an den Kindern aus. | |
| ## Loser Alltag der Sommerferienwelt | |
| Die ältere Nachbarstochter Marusha (Greta Sophie Schmidt) erprobt Julian | |
| gegenüber ihre Reize, der pädophile Vermieter aus dem Erdgeschoss macht ihm | |
| Avancen an der Grenze zum Übergriff. Zu den Halbstarken, die gerne mal | |
| Hunde abzufackeln planen, will er dazustoßen; die jedoch reagieren sich | |
| bloß an ihm ab. | |
| „Junges Licht“ mäandert episodisch durch den losen Alltag dieser | |
| Sommerferienwelt eines von der Welt und ihren Eindrücken noch verwirrten | |
| Jungen. Mehlspeißig-klebrigen Nostalgismen, die man erwarten könnte, setzt | |
| der Film die Entspanntheit beiläufiger Beobachtungen entgegen. Der rußige | |
| Putz an den Fassaden nimmt als Detail genauso gefangen wie das | |
| anderswelt-artig anmutende Bild, das sich Julian und seiner Schwester beim | |
| Blick durchs Fenster in die Umkleide der Zeche bietet: Da tummeln sich die | |
| nackten, urig und robust geformten Arbeiterkörper auf dem Weg zur Dusche, | |
| nachdem sie ihre Arbeitskleidung an Metallketten aufgezurrt und in die Höhe | |
| gezogen haben. In der Bergung und Aufbewahrung solcher historischer, | |
| verloren zu gehen drohender Realitätspartikel liegen die großen Stärken des | |
| Films. | |
| Stark ist auch die Schilderung der spätwirtschaftswunderbaren BRD als Ort | |
| ständiger Gemeinheiten. Von wegen gute alte Zeit: In einer Tour wird | |
| gepiesackt und geprügelt, gestoßen und bedroht. Heranwachsende Mädchen sind | |
| in den Augen der Männer Freiwild. Die Versehrtheit des Körpers ist von | |
| Anfang an gekennzeichnet als Verhandlungsmasse: Zu Beginn verletzt sich | |
| Julian mit einer Rasierklinge die Hand, um eine Ausrede dafür zu haben, | |
| dass er die Hausaufgaben nicht erledigt hat, wofür der Lehrer ansonsten | |
| derbe prügeln würde. | |
| Kurz darauf erzählt der Vater am Mittagstisch von einem Kumpel, der sich | |
| beim Unter-Tage-Unfall ein steifes Bein davongeholt hat. Die | |
| Arbeitsunfähigkeit, meint er dann, habe auch ihr Gutes: Mit Rente und | |
| Versicherung habe der Kollege nun mehr in der Tasche als vorher. | |
| Der Kulturhistoriker Philipp Felsch hat, ausgehend von der Lektüre von | |
| Frank Witzels Roman „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen | |
| manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“, den Begriff „BRD Noir“ für | |
| Stoffe vorgeschlagen, die die dunklen Aspekte des alten Westdeutschland | |
| fokussieren. Diese lassen sich vom Narrativ der BRD als geglückter, | |
| moderner Gesellschaft nicht blenden. | |
| ## Noch ein Stichwortgeber | |
| So wie Winkelmann diese BRD als Ort latenter Gefahr und verdrängter Schuld | |
| kennzeichnet, bietet sich „Junges Licht“ unbedingt als weiterer | |
| Stichwortgeber an. Schade allerdings, dass die Romanverfilmung nicht rundum | |
| geglückt ist. Die musikalische Untermalung wirkt ästhetisch erratisch und | |
| im Einsatz oft beliebig. Auch der Hintersinn von Winkelmanns Spiel mit der | |
| Bildebene – der Film wechselt von Schwarzweiß zu Farbe, vom 4:3-Format zum | |
| Breitbild im munteren Tempo seine Kleidung – ist nicht immer ohne weiteres | |
| ersichtlich. | |
| Nicht zuletzt reiben sich Schärfe und Brillanz der cleanen Digitalbilder | |
| sonderbar am Zeitkolorit: Ausgerechnet der bis unter die Fingernägel | |
| dauerschmutzige Ruhrpott wirkt in Digital-HD wie mit der Kernseife poliert. | |
| Selten hat man Fleckigkeit und grobes Korn schmutzigen Filmmaterials mehr | |
| vermisst als hier. | |
| 11 May 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Thomas Groh | |
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