Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Ausstellung über Bildhauer Carl Andre: Ortsbestimmung, Selbstbesti…
> Im Berliner Museum „Hamburger Bahnhof“ kann man den US-Bildhauer Carl
> Andre entdecken. Den Kuratoren ist eine großartige Hommage gelungen.
Bild: Installation von Carl Andre (Ausschnitt)
„Alles, was ich tue, ist Brancusis Endlose Säule auf die Erde zu legen,
statt in den Himmel zu stellen.“ Was Carl Andre im Gespräch mit dem
amerikanischen Kunstkritiker David Bourdon 1966 herunterspielte, war in
Wirklichkeit eine kleine Kunstrevolution.
Jahrelang versuchte der 1935 in Quincy, im US-Bundestaat Massachusetts
geborene Künstler, die Skulpturen des rumänischen Bildhauers nachzubauen.
Bis er im April 1966 im Jewish Museum in New York 137 gelbliche
Schamottesteine hintereinander auf den Boden reihte. Der Sturz des
„rumänischen Genies“, wie er sein Vorbild nannte, war vollendet.
Folgt man der Künstlerlegende, animierten Andre die sich unendlich in den
Horizont erstreckenden Schienenstränge der Eisenbahn von Pennsylvania, bei
der der abgebrannte Kunststudent von 1960 bis 1964 als Bremser arbeitete,
von der Vertikalen in die Horizontale zu wechseln.
Mit seinem Sockelsturz war Andre, ohne es direkt zu wollen, bei dem
angekommen, was der amerikanische Kunstkritiker Richard Wollheim 1965 zur
„Minimal Art“ erklärte. „Primary Structures“ – der Titel der Ausstel…
New York wurde zum Programm. Die Kennzeichen: industrielle, unbearbeitete
Materialien, seriell angeordnete, elementare Formen, das Fehlen jeder
Symbolik oder Metaphysik spiegelten sich auch in Andres meist quadratischen
Ensembles aus Metallplatten.
## Metall, Holz, Stein
Mit der in ihre Einzelteile zerlegten Skulptur hatte Andre die Arbeit des
Bildhauers umgekehrt. Nicht mehr der Künstler schneidet ins Material.
Sondern die geschnittene Stahlplatte schneidet in den Raum. Sehr zu Recht
trägt also die Berliner Schau den Titel „Sculpture as Place“. Wobei die
scheinbar geheimnisvoll verschlossenen Bedeutungsträger nichts weiter
signalisieren sollten als das, was sie sind: Material. Metall, Holz, Stein.
Spielt Andre einmal mit Narration, führt sie wieder zurück zum Elementaren.
„6-Metal Fugue (for Mendeleev)“, die Arbeit aus 1296 Metallquadraten von
1995, die die Schau jetzt in Berlin eröffnet, ruft zwar das musikalische
Kompositionsprinzip auf. Doch damit variiert Andre nur den Reinheitsgrad
der sechs Metalle: Magnesium, Aluminium, Eisen, Kupfer, Zink und Blei
entsprechend ihrer Anordnung in dem Periodensystem der Elemente, das der
russische Chemiker Dmitri Mendelejew entwickelte.
Wer auf die Metallskulptur tritt, den Blick über die offene Halle schweifen
lässt, seine Entfernung zur Wand schätzt, bemerkt: Aluminium klingt
leichter als Zink, Zink tritt sich weicher als Stahl, Stahl härter als
Kupfer. Ort entsteht durch Klang. Das Kunstwerk ist erst vollendet, wenn
der Betrachter es begeht, in den Blick nimmt.
Der 300 Arbeiten große Parcours, darunter seine selten gezeigten
Schreibmaschinengedichte, die „Dada Forgeries“, und zwei Fotoserien, mit
denen Gianfranco Gorgoni und Gordon Bensley den aufschlussreichen Prozess
von Andres Materialsuche in Manhattans Meatpacking-District oder in seiner
Heimatstadt dokumentierten, ist ein nachgeholter Geburtstagsgruß für Andre,
der vergangenen September seinen 80. Geburtstag feierte.
## Masse und Materialität
Doch diese großartige, von der Beaconer DIA Art Foundation übernommene, von
Lisa Marei Schmidt an den Hamburger Bahnhof adaptierte Hommage an einen
Ausnahmekünstler ist alles andere als eine pflichtschuldige, trockene
Lektion in Kunstgeschichte.
Denn es ist die Primär- und Elementarerfahrung von Andres Kunst, die heute
schockierend aktuell anmutet: die Erfahrung von Masse und Materialität im
visuellen Zeitalter mit seiner Omnipräsenz täuschender Bilder, die von
Ortsbestimmung in einer ortlosen Welt, die der zur Linie gestreckten
Skulptur als Initiator für einen beweglichen Blickpunkt in
festlegungssüchtigen Umbruchzeiten.
Ästhetische Orts-Bestimmung, so ließe sich Carl Andre interpretieren, ist
der erste Schritt zur Selbst-Bestimmung. Und was als Gegenbewegung zum
egozentrischen Lyrismus des Abstrakten Expressionismus entstand, entfaltet
heute neue Kraft gegen multimediale Reizüberflutung und übermütige
Neo-Neofiguration.
Über 30 Jahre konnte Andre nicht in amerikanischen Museen ausstellen. 1985
wurde er verdächtigt, seine Frau aus dem Fenster der gemeinsamen Wohnung in
Manhattan gestoßen zu haben. Der Freispruch nach zweijährigem Prozess
nützte ihm nichts.
Der heute zurückgezogen als „Kunstrentner“ (Andre) in New York lebende Mann
gehörte 1969 zu den Mitbegründern der amerikanischen „Art Workers
Coalition“ gegen den Vietnamkrieg, Rassismus und Sexismus. In einem
Manifest verkündete er, das „Gift des Kunstbetriebes“, „ausdrücken“ zu
wollen „wie eine Zigarette“. Es gehört zur Ironie der Geschichte, dass die
Werke des bekennenden Marxisten heute in den erlesensten Tempeln der Kunst
zelebriert werden. Diesen Materialismus lässt man sich freilich gefallen.
„Meine Kunst“, sagte er 1970 im Gespräch mit der amerikanischen Kritikerin
Phyllis Tuchman, „entsteht aus dem Begehren, Dinge in der Welt zu haben,
die bestätigen, dass man auf der Welt ist.“
8 May 2016
## AUTOREN
Ingo Arend
## TAGS
Rauminstallation
Hamburger Bahnhof
Bildhauerei
Bildende Kunst
Hamburger Bahnhof
Dada
DDR
CIA
## ARTIKEL ZUM THEMA
Nachruf auf Bildhauer Carl Andre: Das war radikal
Der Erneuerer der Bildhauerei und Vertreter des Minimalismus, Carl Andre,
ist gestorben. Nach dem Tod seiner Frau kam es zu Boykottaufrufen gegen
ihn.
Minimal-Art-Ausstellungen im Norden: Gimmicks mit doppeltem Boden
Neues Raumempfinden: In Hamburg und Oldenburg präsentieren Ausstellungen
die Minimal Art der 1960er-Jahre auf unterschiedliche Weise.
20 Jahre Hamburger Bahnhof: Umstrittene Sammelstelle
An der Schnittstelle zwischen privaten Sammlern und öffentlicher Hand: Vor
20 Jahren eröffnete der Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart.
Hannah Höch-Ausstellung in Mannheim: Vergesst Picasso
Sie war die einzige Frau der Berliner Dada-Bewegung und Pionierin der
Fotomontage. Auch Geschlechterkritik gehört zu ihren Markenzeichen.
Schau über DDR-Künstler-Kindheiten: Arbeit am Mythos
Die Kieler Ausstellung „Der dritte Blick“ versammelt fotografische
Positionen von Künstlern und Künstlerinnen, die Kind waren, als ihre DDR
endete.
Fotografische Aufklärung: Operationen im Verborgenen
Die Ausstellung „Terror Incognitus“ des britischen Fotografen Edmund Clark
im Mannheimer Zephyr – Raum für Fotografie.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.