| # taz.de -- Krise in Brasilien: „Alle haben die Schnauze voll“ | |
| > Die Präsidentin ist unbeliebt, der mögliche Nachfolger ist es auch. Das | |
| > Land ist gespalten, die Situation überfordert sogar die Stammtische. | |
| Bild: Zählt sie schon ihre verbleibenden Tage im Amt? | |
| Rio de Janeiro taz | „Die gehört hinter Gitter. Und der Lula ebenfalls!“ | |
| Genervt schaut der Zeitungsverkäufer auf den kleinen Fernsehbildschirm in | |
| seinem Kiosk. Präsidentin Dilma Rousseff spricht, es ist wohl eine ihrer | |
| letzten Reden ans Volk. Was hat sie getan? „Sie raubt das Geld von uns | |
| einfachen Leuten! Wie alle Politiker.“ Der schmächtige Mann, vielleicht 40 | |
| Jahre alt, gehört offensichtlich nicht zu der reichen Elite, die von der | |
| Regierung beschuldigt wird, einen Putsch gegen eine demokratisch gewählte | |
| Präsidentin anzuzetteln. | |
| Ist es in Brasilien nicht lange Zeit bergauf gegangen? „Für mich nicht, und | |
| auch nicht für meine Familie“, mischt sich eine ältere Dame ein, die mit | |
| ihrem adrett frisierten Hund darauf wartet, bedient zu werden. „Du kannst | |
| alle hier in Viertel fragen, alle haben die Schnauze voll.“ | |
| Es stimmt, im Stadtteil Tijuca scheint eine große Mehrheit für ein | |
| sofortiges Ende der Regierung zu sein. Das alte, inzwischen etwas | |
| heruntergekommene Mittelklassenviertel ist durch die Bergkette mit der | |
| Christus-Statue von der noblen Strandregion getrennt. Die Hänge rund um die | |
| Hochhäuser im Herzen Tijucas sind gespickt mit Favelas. Wie überall in Rio | |
| de Janeiro lebt Arm und Reich nebeneinander, aber nicht miteinander. | |
| In einer Straßenkneipe am Fuß des Armenviertels Salgueiro, Geburtsort einer | |
| der berühmtesten Sambaschulen, ist die Stimmung aber ähnlich. „Tchau | |
| querida – tschüß, meine Liebe“, kommentiert ein fröhlicher Mann und ziti… | |
| damit die Pappschilder, die viele Oppositionsabgeordnete bei der letzten | |
| Parlamentsdebatte über die Zukunft der ersten Frau im höchsten Staatsamt | |
| Brasiliens in die Höhe hielten. | |
| ## Auf und Ab des Intrigenspiels | |
| „Meint ihr wirklich, dass es mit einer anderen Regierung besser wird?“ Ein | |
| junger Mann mischt sich wie selbstverständlich ein, hier kennen sich alle. | |
| „Wir haben doch immer für diese Regierung gestimmt, und jetzt soll sie | |
| plötzlich ersetzt werden? Und von wem?“ Fast wäre eine Diskussion | |
| entbrannt, doch das wollte niemand. Statt dessen ein verbrüderndes Lachen, | |
| wie wenn Fans konkurrierende Fußballteams zusammen trinken. | |
| Am Mittwoch wird der Senat endgültig darüber abstimmen, ob Rousseff für | |
| maximal 180 Tage von Amt suspendiert wird. Die Opposition macht sie für die | |
| schwere Wirtschaftskrise und einen weitverzweigten Korruptionsskandal | |
| verantwortlich. Im Amtsenthebungsverfahren, das im Dezember auf den Weg | |
| gebracht wurde, werden ihr aber lediglich Haushaltstricks vorgeworfen: Sie | |
| habe die Zahlen geschönt und damit ihre Chancen auf Wiederwahl im Oktober | |
| 2014 unfair erhöht. | |
| Doch nichts ist im Auf und Ab des Intrigenspiels sicher: Am Montagmittag | |
| annullierte der Parlaments-Interimspräsident Waldir Maranhão plötzlich das | |
| Votum der Abgeordneten, mit dem der Prozess Mitte April an den Senat | |
| weitergeleitet wurde. Ein paar Stunden später überlegte er es sich anders: | |
| Es wird abgestimmt. | |
| Tonangebend sind die Gegner der Amtsenthebung vor allem in den | |
| Gewerkschaften, bei den Anhängern sozialer Bewegungen, unter Künstlern und | |
| Intellektuellen. Verteidigt wird aber nicht Rousseff und auch nicht ihre | |
| Arbeiterpartei PT, die aus Sicht vieler Linker schon lange ihre Prinzipien | |
| verraten hat. „Sie ist inzwischen genauso korrupt wie die anderen Parteien. | |
| Agrarreform, Menschenrechte, Polizeigewalt – all diese Themen haben bei | |
| Rousseff keine Priorität“, sagt eine Aktivistin des olympiakritischen | |
| Komitees energisch. Aber gegen den Staatsstreich, gegen die Einsetzung | |
| eines neuen Präsidenten ohne Wahlen, müsse mobilisiert werden. | |
| ## Opposition ohne Alternative? | |
| „Das Schlimmste ist das Hassklima, das geschaffen wurde, um den Putsch zu | |
| rechtfertigen“, ergänzt ein Mitstreiter. „Heute überlege ich zweimal, ob | |
| ich ein rotes T-Shirt anziehe. Je nachdem, wo du hingehst, kann es | |
| Anfeindungen auf der Straße geben.“ Auffällig ist die Polarisierung, wenn | |
| es um die Amtsenthebung geht. Ein „Ja, aber …“ oder „einerseits, | |
| andererseits“ kaum zu hören. Die Stimmung ist aufgeheizt. | |
| Ganz anders die Meinungen über Vizepräsident Michel Temer, der schon am | |
| Donnerstag das höchste Staatsamt übernehmen könnte. Er ist noch unbeliebter | |
| als Rousseff, und beide Seiten sind sich weitgehend einig, dass seine | |
| Regierung nichts Gutes verheißt. Doch mangels Alternative innerhalb der | |
| Opposition setzen die Rousseff-Gegner, die zumindest gefühlt in der | |
| Mehrheit sind, alles daran, ihn an die Macht zu hieven. | |
| 10 May 2016 | |
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| Andreas Behn | |
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