# taz.de -- Protest gegen TTIP und Ceta: „Ich bin ein freies Elektron“ | |
> Eine Querflötenlehrerin aus Lüdenscheid organisiert Bürgerklagen gegen | |
> geplante Freihandelsabkommen. Was treibt sie an? | |
Bild: Marianne Grimmenstein mit tausenden Vollmachtserklärungen in ihrer Wohnu… | |
Als Marianne Grimmenstein ihre Arbeit von Monaten in einem braunen Karton | |
durch Berlin trägt, wartet Brigitte Zypries mit Kaffee auf sie. Im | |
Bundeswirtschaftsministerium treffen sich die beiden Frauen zum Gespräch. | |
Im Karton, den Marianne Grimmenstein der Staatssekretärin und ehemaligen | |
Justizministerin der SPD mitbringt, [1][sind Listen mit insgesamt 163.000 | |
Unterschriften.] | |
Diese 163.000 Menschen fordern, dass der TTIP-Leseraum im | |
Wirtschaftsministerium für alle Bürger geöffnet wird. Bisher sind die Akten | |
darin nur den Bundestagsabgeordneten zugänglich – und die dürfen darüber | |
öffentlich nichts erzählen. | |
Als die beiden Frauen gemeinsam Kaffee trinken, sagt Zypries zu | |
Grimmenstein, dass es bei dieser Praxis bleiben wird. | |
Trotzdem: Eine derartige Beachtung seitens der Bundesregierung ist neu für | |
Marianne Grimmenstein. Politisch hat sie kaum Erfahrung; eigentlich ist sie | |
Querflötenlehrerin. Ihr größter politischer Erfolg bestand bisher darin, | |
dass sie den geplanten Umzug der Volkshochschule in ihrer | |
nordrhein-westfälischen Heimatstadt Lüdenscheid in ein heruntergekommenes | |
Gebäude im Außenbezirk verhindern konnte. | |
## Die Herrschaft der Wirtschaft über das Leben | |
Vor einiger Zeit jedoch meldete sich die Kampagnenorganisation change.org | |
bei ihr. Grimmenstein hatte vor zwei Jahren eine Verfassungsbeschwerde | |
gegen die geplanten Freihandelsabkommen Ceta und TTIP formuliert und sie | |
zusammen mit 230 anderen Bürgern beim Bundesverfassungsgericht eingereicht. | |
Sie war damit aus formalen Gründen gescheitert. Über change.org konnte sie | |
nun nicht nur Unterschriften, sondern auch Geld sammeln, um einen | |
erfahrenen Juristen zu bezahlen, der eine Verfassungsbeschwerde schreibt, | |
die den Karlsruher Anforderungen gerecht wird. Sie fand ihn im Bielefelder | |
Rechtsprofessor Andreas Fisahn. | |
TTIP und Ceta sollen den transatlantischen Handel erleichtern, TTIP | |
zwischen der Europäischen Union und den USA, Ceta zwischen der EU und | |
Kanada, indem Zölle abgeschafft und Normen angeglichen werden. Kritiker wie | |
Grimmenstein befürchten, dass durch diese Abkommen die Herrschaft der | |
Wirtschaft über das normale Leben zunimmt. | |
Ceta ist bereits ausgehandelt, der Text veröffentlicht. Demnächst müssen | |
der Europäische Rat und das Europäische Parlament darüber entscheiden. Die | |
Verhandlungen über TTIP sind dagegen noch im Gange. In Kürze findet die | |
offiziell vorletzte, im Sommer dann die angeblich letzte Verhandlungsrunde | |
statt. Sehr wahrscheinlich aber wird der Vertrag mit den Vereinigten | |
Staaten so schnell nicht beschlossen und ratifiziert. Denn dort finden im | |
Winter die Präsidentschaftswahlen statt, die die Verhandlungen vermutlich | |
ins nächste Jahr verlängern. | |
## Jede Menge Gegenwehr | |
Und in Europa gibt es inzwischen jede Menge Gegenwehr. Wenn US-Präsident | |
Barack Obama und Bundeskanzlerin Angela Merkel am kommenden Wochenende die | |
Hannover-Messe eröffnen, werden dort einige zehntausend Leute gegen die | |
Abkommen demonstrieren. | |
Einen Tag, bevor sie Zypries ihre gesammelten Unterschriften überreichen | |
wird, sitzt Grimmenstein im Büro von change.org in Berlin, und schaut über | |
die Dächer der Hauptstadt. Sie ist 69 Jahre alt, aber sie wirkt jünger. | |
Ihre Stimme ist hell und fröhlich. | |
Vierzig Jahre lang hat sie an der öffentlichen Musikschule in Lüdenscheid | |
Querflöte unterrichtet – Mozart und Jazz. Mit leichtem südosteuropäischem | |
Akzent erzählt sie, dass sie 1968 von Budapest nach Deutschland | |
übersiedelte. „Der Liebe wegen.“ Sie legt ihrem Mann, der neben ihr sitzt, | |
die Hand aufs Knie. | |
Mittlerweile ist Grimmenstein in Rente. Auf Honorarbasis kümmert sie sich | |
noch um zehn Musikschüler. Deswegen hat sie nun Zeit, ihr | |
rechtswissenschaftliches Verständnis praktisch anzuwenden. Ihr Vater und | |
ihr Großvater waren Juristen. „Zu Hause wurde immer viel über Recht und | |
Politik gesprochen.“ Ein Urgroßvater saß im ungarischen Parlament. „Er war | |
ein feuriger Abgeordneter.“ Die Urenkelin lacht laut. „Wir haben seine | |
Reden gelesen.“ | |
## Postbote kommt mit dem Kleintransporter | |
Mit Hilfe von change.org hat Grimmenstein nun zwei Petitionen im Rennen. | |
Mit ihrer zweiten Unterschriftenaktion mobilisiert die Aktivistin für | |
i[2][hre Verfassungsbeschwerde gegen das Europa-Kanada-Abkommen Ceta.] Es | |
ist die größte Bürgerklage in der deutschen Geschichte: 50.000 Vollmachten | |
hat Grimmenstein bislang von Bürgern erhalten, die ihr Ansinnen | |
unterstützen. „Wahrscheinlich weitere 20.000 liegen noch in den | |
ungeöffneten Postsäcken bei mir zu Hause“, sagt sie. Der Postbote kommt | |
inzwischen nicht mehr mit dem Fahrrad zu ihr, sondern hat sich einen | |
Kleintransporter besorgt. | |
Der Rechtsprofessor Andreas Fisahn will die Klage beim | |
Bundesverfassungsgericht einreichen, sobald eine deutsche Fassung des | |
Ceta-Vertrags vorliegt. Wann das ist, ist noch unklar. | |
Grimmenstein sagt, sie stürzt sich so in die Sache, weil sie sich um die | |
Zukunft ihres achtjährigen Enkelkinds sorgt. „Das westliche System ist kein | |
Erfolg“, sagt sie. „Die Wirtschaft zerstört die Umwelt weltweit, und die | |
bestehenden Gesetze hindern sie nicht daran.“ Wenn der TTIP-Vertrag in | |
Kraft träte, könnte durch die Angleichung der Normen das europäische | |
Prinzip der Vorsorge gegen Umweltschäden ausgehebelt werden, sagt sie. „Die | |
Politik muss über der Wirtschaft stehen. Das menschliche Leben besteht | |
nicht nur aus Warenaustausch.“ | |
Außerdem will sie nicht einsehen, warum die Freihandelsabkommen das Recht | |
der Unternehmen verbriefen sollen, Regierungen vor speziellen Gerichtshöfen | |
zu verklagen. | |
## Keine Linke | |
Die EU-Kommission ist den KritikerInnen zwar inzwischen entgegengekommen. | |
Statt privater Schiedskommissionen soll es künftig öffentliche | |
Handelsgerichte geben. Die Ceta- und TTIP-GegnerInnen fragen sich trotzdem: | |
Warum wird den Konzernen ein neuer Rechtsweg eröffnet? Was ist so schlecht | |
an den Verwaltungsgerichten, die auch den Bürgern reichen müssen? | |
Als Linke versteht sich Grimmenstein dabei nicht. „Ich bin ein freies | |
Elektron.“ Würde sie auch die Zusammenarbeit mit Rechten und | |
Rechtspopulisten in Kauf nehmen? „Jeder Bürger kann einer | |
Verfassungsbeschwerde beitreten“, sagt sie. „Ich bin keine politische | |
Sortieranlage.“ | |
Angespornt von ihrem Erfolg denkt die Aktivistin schon weiter. Zur | |
Bundestagswahl 2017 möchte Marianne Grimmenstein mit einer Liste | |
unabhängiger Kandidaten antreten, die keiner Partei angehören. Sie selbst | |
will aber nicht kandidieren. Ihr Talent bestehe eher darin, Leute | |
zusammenzubringen, sagt sie. | |
19 Apr 2016 | |
## LINKS | |
[1] https://www.change.org/p/angela-merkel-und-sigmargabriel-einblick-f%C3%BCr-… | |
[2] https://www.change.org/p/b%C3%BCrgerklage-gegen-ceta | |
## AUTOREN | |
Hannes Koch | |
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tritt. |