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# taz.de -- Bevölkerungs-Boom im Niger: Pillenversteck im Hirsesack
> Kein Land wächst so rasant wie der Niger. Das Problem: Die Infrastruktur
> wächst nicht mit. Doch Verhütung ist in dem Sahelstaat noch immer
> verpönt.
Bild: Familienplanung ist im Niger eigentlich verpönt. Yacouba Hassia Abdoulay…
Niamey taz | Yacouba Hassia Abdoulaye fährt fast liebevoll über die
hellblaue Schachtel. Auf ihr abgebildet ist eine Frau, die ein Gefäß auf
dem Kopf transportiert und einen großen Ohrring trägt. Der Anhänger
symbolisiert das Kreuz des Südens, das im Niger auch Kreuz von Agadez
genannt wird. Es ist jener bekannte Silberschmuck der Tuareg, der einst von
Vater zu Sohn weitergegeben wurde und über den es zahlreiche Geschichten
gibt. „Es ist eine typische Frau aus dem Niger“, sagt Abdoulaye.
Die Zeichnung soll ihr und der nichtstaatlichen Organisation Animas-Sutura,
die sich für Familiengesundheit einsetzt, helfen, Familienplanung populär
zu machen. Die Frau mit dem roten Schleier lächelt und raschelt mit der
Schachtel. In ihr befindet sich die Antibabypille für drei Monate. Für
Abdoulaye ist sie eine wichtige Methode, um etwas gegen die rasant
wachsende Bevölkerung in ihrem Heimatland zu unternehmen.
Vermutlich wächst der Sahel-Staat so schnell wie kein zweiter auf der Welt.
Verschiedene Untersuchungen gehen von jährlich 3,9 Prozent aus. Vor 49
Jahren lebten noch 3,5 Millionen Menschen in dem Land. Inoffiziell geht man
heute bereits von etwa 20 Millionen aus. Bei einer Geburtenrate von
durchschnittlich 7,6 Kindern pro Frau ist die Tendenz rasant steigend.
Das Problem ist nur, dass sonst nichts mitwächst: Weder werden neue Schulen
gebaut noch Krankenhäuser. Auch groß angelegte Ausbildungsprogramme gibt es
nicht, stattdessen jede Menge negativer Zahlen. Im aktuellen
Entwicklungsindex der Vereinten Nationen ist der Niger Schlusslicht. Es
lassen sich zahlreiche andere Untersuchungen finden, die ein ganz ähnliches
Bild zeichnen – von der Analphabetenrate bis zur Unterernährung.
## Am Stadtrand und in Dörfern wird Ackerland knapp
Dabei reicht schon ein Spaziergang durch Niamey. Die Stadt ist wunderschön
am Niger gelegen, doch im Vergleich zu anderen Hauptstädten der Region ist
es ein Provinznest. Auf den belebten Märkten im Zentrum bieten junge Männer
Kartoffeln, Zwiebeln oder Kürbisse an. Wer nichts zu verkaufen hat,
versucht sich als Handlanger und fährt für Kunden Obst und Gemüse in
großen, schweren Metallschubkarren bis zum nächsten Sammeltaxi. Ein paar
Jungen ziehen mit Plastikschüsseln durch die Straßen und bitten um ein
wenig Geld oder etwas zu essen.
Am Stadtrand und in Dörfern – 80 Prozent der Bevölkerung lebt auf dem Land
– wird hingegen fruchtbares Ackerland immer knapper. Einerseits wird darauf
Wohnraum geschaffen, andererseits verkleinert sich die zu vererbende Fläche
nach dem Tod eines Familienoberhauptes immer weiter. Sie wird so klein,
dass sie die Nachfolger nicht mehr ernähren kann. Von Generation zu
Generation spitzt sich die Situation zu. 2005 kam es im Niger zu einer
Hungersnot.
Abdoulaye sieht vor allem die Männer in der Verantwortung: „Sie wollen noch
immer große Familien haben.“ Trotz aller Probleme gelten Kinder als
Statussymbol, über das man in der Gesellschaft definiert wird. „Frauen
haben dagegen kein Mitspracherecht“, sagt sie. Im Land gibt es zwar
bekannte Frauen, wie die Sängerin Fatimata Marikou, die schon beim
Afrika-Festival in Würzburg auftrat und gegen weibliche
Genitalverstümmelung, Zwangsheirat und Teenager-Schwangerschaften singt.
Doch bei der Präsidentschaftswahl im Februar war kein einziges Foto einer
Frau auf dem Stimmzettel zu sehen.
Eine Aktivistin, die namentlich nicht genannt werden möchte, beklagt: „Es
gibt kein Netz und keine Solidarität untereinander. Man geht nicht
gemeinsam auf die Straße.“ Ein Beispiel dafür sei die Frauenquote für
politische Ämter, die bei 15 Prozent liegt. „Männer halten sich strikt
daran, was bedeutet: 15 Prozent bekommt ihr Frauen, aber keinen einzigen
Sitz mehr.“ Sie erlebe nirgendwo Bereitschaft, dagegen zu kämpfen und die
Quote zu erhöhen. Es sei nicht einmal Gesprächsthema.
## Nicht einmal 12 Prozent der Frauen sollen verhüten
Ähnlich ist es mit der Familienplanung und erst recht mit der Verhütung.
Die so gelassen wirkende Abdoulaye von Animas-Sutura lacht fast spöttisch
auf. „Ich habe schon von Paaren gehört, die geschieden worden sind, weil
sie die Antibabypille genommen hat. In ländlichen Regionen verstecken
Frauen die Packungen in Hirsesäcken, buddeln ein kleines Loch in den Boden
oder bitten eine Nachbarin um Hilfe.“ Animas-Sutura geht davon aus, dass
nicht einmal 12 Prozent der Frauen verhüten. Die Nachfrage liegt bei etwa
30 Prozent.
Sie ist jedoch nicht nur so gering, weil die Männer dagegen, sondern weil
die Möglichkeiten so wenig bekannt sind. In der Hauptstadt ist es noch
einfach, an Informationen und Produkte zu kommen. In Krankenstationen und
Apotheken werden auch Dreimonatsspritzen verkauft und die Spirale
eingesetzt. Auf dem Land ist das jedoch oft unmöglich, da schon
Krankenstationen zu viele Kilometer entfernt sind.
Animas-Sutura ist außer in Niamey in mehr als 700 Dörfern in den Regionen
Zinder und Tahoua aktiv. Mit Radio-Werbespots in 70 Programmen werben die
Mitarbeiter für Familienplanung. Sie sorgen dafür, dass die hellblauen
Schachteln auch den Weg in entlegene Regionen finden. Umgerechnet rund 45
Cent kostet eine für drei Monate. Das ist selbst in einem der ärmsten
Staaten der Welt bezahlbar. Wichtig ist auch, dass die Gegenden regelmäßig
beliefert werden und der Verkauf diskret erfolgt. Niemand muss in einem
Gesundheitszentrum, das ähnlich wie die Praxis eines Allgemeinmediziners
funktioniert, alle persönlichen Daten preisgeben und in einer Akte
festhalten lassen, welche Verhütungsmethode gerade genutzt wird.
Auf dem Land sind die Widerstände bis heute am stärksten. „Auf den ersten
Blick finden sich durchaus nachvollziehbare Gründe, weshalb man große
Familien will“, sagt Issaka Maga Hamidou, Soziologe und Demografie-Experte
an der Universität Abdou Moumouni in Niamey. Viele Kinder bedeuten viele
Arbeitskräfte, egal, ob im Haushalt, für kleine Verkaufsstände am
Straßenrand oder auf den Feldern, wo Landwirtschaft noch immer Handarbeit
ist.
## Eine große Kinderschar gilt als Altersvorsorge
Gleichzeitig betont Soziologe Hamidou, dass dies eine Milchmädchenrechnung
sei. Ein Kind großzuziehen koste schließlich viel mehr, als beispielsweise
jemanden für einige Tage oder Wochen während der Erntesaison einzustellen.
Allerdings ist eine große Kinderschar bis heute eine Art private
Altersvorsorge. Eine staatliche Unterstützung gibt es schließlich nicht.
Letztendlich ist auch eine bestimmte Auslegung des Islam ein Hindernis in
Sachen Familienplanung, erlebt der Soziologe. Bei Vorträgen wird ihm
manchmal vorgeworfen, er sei Sprachrohr des Westens. „Dabei ist
Familienplanung in vielen arabischen Staaten längst normal. Doch hier will
das niemand hören“, sagt Hamidou. Den mehr als 80 Prozent Muslimen unter
den Bewohnern im Niger wolle niemand eine bestimmte Anzahl an Kindern
vorschreiben. Der Appell geht in eine andere Richtung: Jedes Paar soll
selbst entscheiden, wie viele Kinder es sich leisten kann – unabhängig vom
gesellschaftlichen Druck.
Dazu gehört jedoch eine weitere Bedingung: wirtschaftliche Unabhängigkeit
der Frauen. Wer jedes Jahr ein Kind bekommt, hat kaum Chancen, sich ein
eigenes Geschäft aufzubauen oder weiter zur Schule zu gehen. „Wir haben
einigen Frauen Geld gegeben und gesagt: Baut euch etwas auf“, erinnert sich
Abdoulaye von Animas-Sutura an ein kleines Projekt, das jedoch nicht zu den
Hauptaufgaben ihrer Organisation gehört. Gut funktioniert hat es
allerdings: „Viele Frauen haben innerhalb der Familie eine stärkere
Stellung bekommen. Diese Autonomie spielt eine ganz wichtige Rolle.“
13 Apr 2016
## AUTOREN
Katrin Gänsler
## TAGS
Niger
Verhütung
Afrika
Bevölkerung
Hungersnot
Hunger
Hunger
Boko Haram
Schwerpunkt Flucht
Fußball
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