# taz.de -- Belgiens Kulturszene nach dem Terror: Dringend Pommes essen | |
> Für Bart van Neste alias Red D waren die Anschläge ein Schock. Trotzdem | |
> bewahrt er sich seinen Humor – wie viele andere Künstler auch. | |
Bild: Liebe ist das Stichwort | |
Zwischen Schockstarre und Trotz, so könnte man die Reaktionen in der | |
belgischen Kulturszene zusammenfassen. Musiker wie das Indierockduo Black | |
Box Revelation oder Placebo (Placebo-Sänger Brian Molko stammt aus Brüssel) | |
bekundeten ihre Anteilnahme auf Facebook und Twitter. Die junge | |
kongolesisch-belgische Rapperin Coely postete etwa eine simple schwarze | |
Fläche. Darunter stand zu lesen: „Lost souls – lives lost. I just can’t | |
believe this ...“ | |
„Belgien ist nicht immun gegen Terror“, sagt Bart van Neste der taz. Van | |
Neste ist besser bekannt als Red D, er ist der berühmteste House-DJ | |
Belgiens. „Viele Menschen haben insgeheim befürchtet, dass so etwas wie am | |
Dienstag passieren könnte. Politiker und andere Personen des öffentlichen | |
Lebens haben uns immer wieder auf die Gefahren von Attentaten hingewiesen“, | |
sagt er. | |
Trotzdem war die Nachricht der beiden Bombenattentate für ihn ein Schock. | |
Van Neste legt überall in der Welt auf, gerade war er in Australien und | |
Vietnam. „Im Vergleich zu allen anderen Flughäfen, an denen ich jemals | |
gelandet oder von denen ich abgeflogen bin, wurden die | |
Sicherheitsvorkehrungen am Flughafen in Brüssel eher lax gehandhabt. Das | |
hat mich immer gewundert.“ | |
Der 40-Jährige aus Gent legt bereits seit den frühen Neunzigern Platten | |
auf, regelmäßig auch in Brüsseler Clubs wie Fuse, Bloody Louis oder La | |
Villaine. Das Publikum dort, sagt van Neste, sei zwar sehr gemischt: „Aber | |
ich verschließe nicht die Augen davor, dass kaum Muslime darunter sind. | |
Obwohl sie im öffentlichen Leben unseres Landes sehr präsent sind, sind sie | |
in manche Bereiche der belgischen Gesellschaft nur schlecht integriert. Es | |
gibt viel zu wenig kulturelle Kontakte.“ Das habe aber nichts mit | |
ethnischen oder religiösen Wurzeln zu tun: „Ich habe Freunde in Istanbul, | |
und sie wissen alles über den Housesound.“ | |
## Einfach nur miteinander spielen | |
Andere Künstler reagieren zornig. Der im flämischen Aalst geborene | |
Schriftsteller Dimitri Verhulst (“Die Beschissenheit der Dinge“, | |
„Gottverdammte Tage auf einem gottverdammten Planeten“) zeigte sich [1][im | |
Interview mit dem niederländischen Radiosender Radio 1] fassungslos und | |
wütend: „Was muss noch alles passieren, damit wir ins Nachdenken kommen? | |
Muss es immer erst bei uns vor der eigenen Tür passieren, muss das Blut | |
erst ans eigene Fenster spritzen, bis wir anfangen nachzudenken?“ | |
Der Schriftsteller, der im Übrigen sehr katholisch erzogen wurde, erklärte | |
zudem: „Jedweder Unsinn, der in irgendeines Gottes Namen verbreitet wird, | |
war mir schon immer suspekt.“ Leute, die der religiösen Propaganda Glauben | |
schenkten, müssten „zum Psychiater“. Die Atmosphäre in Antwerpen oder | |
Brüssel beschreibt Verhulst mit einem Vergleich mit besetzten Städten. Für | |
ihn ist klar: Belgien befindet sich in einer großen Krise. | |
Für den House-DJ Bart van Neste ist die Radikalisierung von jungen | |
muslimischen Männern in der belgischen Hauptstadt auf die Gettoisierung vor | |
Ort zurückzuführen. Es gebe Viertel in Brüssel mit einem Anteil von 95 | |
Prozent Einwohnern, die weder Französisch noch Flämisch sprechen. „Auf dem | |
Papier hat jeder die gleichen Chancen in Belgien, aber auf dem Arbeitsmarkt | |
und in der Gesellschaft gibt es rassistische Vorurteile. Integration klappt | |
besser ohne Gettos.“ Van Neste glaubt aber, dass sich das bald bessern | |
wird. In Schulen und Kindergärten beobachtet er, wie Kinder zusammenkommen, | |
ohne sich um ihren Migrationshintergrund zu scheren. Sie wollen einfach nur | |
miteinander spielen. | |
Für van Neste verkörpert einer den Wandel der belgischen Gesellschaft | |
besonders: der Popstar Stromae. Stromae, mit bürgerlichem Namen Paul van | |
Haver, wuchs als Sohn einer belgischen Mutter und eines ruandischen Vaters | |
auf. Der Vater verließ die Familie, als Paul klein war. Paul wurde | |
begeisterter Schlagzeuger und gründete im jesuitischen Internat, auf das | |
ihn seine Mutter schickte, eine HipHop-Band. Später produzierte er eigene | |
Tracks und volontierte beim belgischen Radiosender Radio NRJ. Dort | |
entdeckte der Programmchef seinen Song “Alors on danse“ und nahm ihn ins | |
Programm auf. | |
Seitdem ist Stromae im französischsprachigen Raum ein Superstar. Und für | |
van Neste ein gutes Beispiel dafür, was das Belgien von heute ausmache: | |
„Stromae hat ruandische Wurzeln, es gibt andere MusikerInnen, die | |
kongolesische oder ugandische Wurzeln haben, weil es einst Kolonien waren. | |
Oder diejenigen, deren Eltern in den Fünfzigern aus Italien nach Belgien | |
eingewandert sind, um in den Bergwerken zu arbeiten. Oder diejenigen, deren | |
Eltern aus Marokko zu uns kamen. Belgien hat in den vergangenen 50 Jahren | |
mehrere Wellen von Migranten aufgenommen.“ | |
Und dann ist da noch die Sache mit den Flamen und Wallonen. Für van Neste | |
ist Belgien ein „künstliches Land“. Aber: „Trotzdem fühlen sich alle als | |
Belgier.“ Der Genter van Neste hat viele Freunde in Wallonien, die wiederum | |
Freunde in Flandern haben. Er vernimmt keine separatistischen Tendenzen. | |
„Es mag für Außenstehende ein seltsames Land sein, aber im Alltag klappt es | |
trotz aller Sprachbarrieren.“ | |
## „Wir brauchen Liebe“ | |
Gent, seine Heimatstadt, bezeichnet Bart van Neste als am besten | |
integrierte belgische Großstadt. Anders als in Brüssel gebe es dort keine | |
Gettos. „Das bedeutet natürlich nicht, dass in Gent nichts passieren kann, | |
aber man bekommt wenigstens das Gefühl, dass die Stadtverwaltung sich des | |
Themas Integration und Respekt mehr bewusst ist.“ | |
Gegen Ende der Woche fand die belgische Kulturszene zum Humor zurück: Ein | |
[2][Video des Brüsseler Comedians Pablo Andres] wurde innerhalb von wenigen | |
Stunden auf Facebook fast 750.000-mal aufgerufen. Darin lässt Andres einen | |
Polizisten in einem kurzen Clip die Botschaft der Liebe verkünden (“am | |
meisten brauchen wir Liebe“) und die Terroristen verspotten: „Auf | |
Schwachköpfe reagieren wir mit Stille.“ Es folgt: Windrauschen, | |
Entenquaken. Stille. | |
Während Sportveranstaltungen wie das Fußball-Länderspiel zwischen Belgien | |
und Portugal vom ursprünglichen Austragungsort Brüssel in die | |
portugiesische Stadt Leiria verlegt wurden, kündigten Musiker wie das | |
Brussels Jazz Orchestra an, am Osterwochenende erst recht zu spielen: „Wir | |
müssen die Musik, unsere Werte und das Leben feiern. Nehmt es als kleinen | |
Beitrag, Terror und Gewalt zu bekämpfen.“ | |
Bart van Neste appelliert an die belgischen Politiker, anderen Kulturen | |
endlich mit mehr Respekt zu begegnen. Er hat seinen Humor nicht verloren. | |
„Am allerdringlichsten müssen wir jetzt zusammen ein Erdbeerbier trinken | |
und Pommes essen.“ Mitte April wird er wieder in Brüssel auflegen. Dann | |
findet dort ein von ihm schon lange geplantes dreitägiges | |
Elektronikfestival namens „Listen!“ statt. | |
Übersetzung der Zitate des Schriftstellers Dimitri Verhulst aus dem | |
Niederländischen von Doris Benjack | |
26 Mar 2016 | |
## LINKS | |
[1] http://www.radio1.nl/item/349624-Dimitri-Verhulst:-'Wanneer-gaan-we-een-kee… | |
[2] http://www.facebook.com/PabloAndresOfficiel/?fref=ts | |
## AUTOREN | |
Jens Uthoff | |
Julian Weber | |
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