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# taz.de -- Fremdheit und Literatur: Komplizierte Heimat Deutschland
> Die Autoren Senthuran Varatharajah und Eberhard Rathgeb schreiben über
> Fremdheit, Sehnsucht, Außenseitergefühle und Druckstellen.
Bild: Auch ein zur Hängematte umfunktionierter Vorhang kann vorübergehend Hei…
Wie sich Fremdheit anfühlt. Valmira Surroi soll stille Post mitspielen.
Während ihre deutschen Klassenkameraden natürlich sofort wissen, wie das
geht, muss sie, die mit ihren Eltern aus dem Kosovo geflohen ist, sehr
aufpassen. „Als das Wort am Ende angekommen war, sollte es der, der auf dem
letzten Stuhl saß, laut aussprechen, so waren die Regeln, wie mir gesagt
wurde, und alle wussten schon, bevor er es aussprach, dass es ein anderes
sein würde als das am Anfang.“
Alle wussten schon – nur Valmira nicht. Dafür hat sie Eindrücke, die ihre
Klassenkameraden gar nicht beachteten. „Ich habe den warmen Atem auf den
Ohren und die Druckstellen der Hände und Blicke auf meinem Gesicht gespürt,
als wir uns wieder setzten.“
Valmira Surroi ist eine der beiden Protagonisten in dem Roman „Vor der
Zunahme der Zeichen“ des Autors Senthuran Varatharajah, der, wie die zweite
Hauptfigur Senthil Vasuthevan, als Junge mit seiner Familie aus Sri Lanka
nach Deutschland kam. Es war sehr interessant, sich inmitten der lauten
Debattenlage der vergangenen Wochen ein paar Tage mit diesem leisen Roman
zu beschäftigen.
Senthuran Varatharajah, der 1984 geboren wurde, in Marburg Philosophie,
evangelische Theologie und Kulturwissenschaft studierte und in Berlin lebt,
behauptet mit diesem Roman einen Raum. Seine beiden Hauptfiguren lässt er
über Facebook Nachrichten austauschen, sie erzählen sich ihre Erfahrungen,
mit der zuerst fremden Sprache, mit den Reaktionen der Umgebung, auch mit
den eigenen Familien, bei denen ihnen auch vieles fremd ist.
## Die Integrationsdebatte in einem Satz
Beide sind sie gute Schüler. In ihren Zeugnissen steht der Satz: „hat sich
ohne schwierigkeiten in die klassengemeinschaft eingefügt“ (wie auf
Facebook üblich, sind Passagen in Kleinschreibung verfasst). In diesem Satz
steckt eine ganze Integrationsdebatte. Man hört gleich mit, dass die beiden
ihre Schwierigkeiten, die sie selbstverständlich hatten, lieber für sich
behalten haben. Ihre Außenseitererfahrungen schreiben sie nun einander:
„Ich dachte an meine Klasse, in der ich dreckige Bettlerin und schmutziges
Asylantenkind genannt wurde.“ Das ist das eine Buch.
Vollends interessant war es, daneben ein ganz andersartiges Buch zu lesen,
das aber genauso eine hochbewusste Suchbewegung, ein sorgfältiges Erkunden
fremden Terrains darstellt: das (in manchem sehr romanhafte) Sachbuch „Am
Anfang war Heimat“ des Autors Eberhard Rathgeb. Rathgeb wurde 1959 als Kind
deutscher Auswanderer in Argentinien geboren, ist früh mit seinen Eltern
nach Deutschland gezogen, hat zuerst eine journalistische Karriere gemacht
und lebt nun als freier Autor in Niedersachsen.
Während Varatharajah seine Romanfiguren kulturelle Oberfläche abscannen
lässt, die Sätze, die ihnen gesagt werden, das Verhalten, mit dem sie sich
auseinandersetzen müssen, macht Rathgeb kulturelle Tiefenbohrungen: Er
sucht die deutschen geisteswissenschaftlichen Traditionen danach ab, wie
sie Heimat herzustellen dachten.
## An Nationen gebundene Heimatgefühle
Das Interessante ist nun, dass man die beiden Bücher eben keineswegs in
einen Gegensatz von Erfahrungen der Heimatlosigkeit bei Varatharajah und
der selbstverständlichen Rückbesinnung auf Heimat bei Rathgeb bringen kann,
ganz und gar nicht. Ausgehend vom Sterbebett seines Vaters, dem die
deutsche Kultur selbstverständlich Heimat war, tastet Rathgeb die Text- und
Gedankengebäude von Hegel bis Heidegger, von Kant bis Adorno, von Goethe
bis Stifter ab und macht dabei klar, was uns heutige Leser von diesen
Traditionen auch immer trennt.
Was uns von heute aus davon trennt, das ist, natürlich, der
Nationalsozialismus mit seinen Versuchen, Heimat völkisch zu begründen. Und
zum anderen ist es die Tatsache, dass Heimat eben keineswegs
selbstverständlich vorhanden ist und keineswegs an Nationen gebunden werden
kann, wenn sie nicht lebensfeindlich werden soll.
Rathgeb: „Heimatgefühle, die an Nationen gebunden sind und nicht an die
Reflexion der eigenen Formen des Lebens und Denkens, die mit anderen
geteilt werden können, gerinnen zu Vorurteilen, Barrieren und
Behinderungen, intellektuelles und emotionales Material aus dem 19. und 20.
Jahrhundert, mit dem sich Barrikaden bauen und Kriege führen lassen.“ Das
Buch zielt vor allem darauf, das Nachdenken über Heimat – auf der Höhe der
deutschen Traditionen – von allem allzu Deutschen freizurütteln.
## Kulturelle Traditionen und geteilte Erfahrungen
Warum überhaupt über Heimat nachdenken? Nun, es gibt bei Eberhard Rathgeb
viele großartige Porträts und philosophische Miniaturen, die man gut gegen
alle Versuche wenden kann, deutsche Traditionen ausgrenzend zu wenden: Ob
Rathgeb Stifters „Nachsommer“ liest und „Den Mönch am Meer“ von Capar …
Friedrich analysiert (übrigens ein Glanzstück) – Heimat erscheint in dieser
Tradition als etwas Prekäres, als etwas, das sich auch immer entzieht und
was man gar nicht „haben“ und einfach verteidigen kann.
Es geht bei Rathgebs Tiefenbohrungen eben keineswegs darum, sich in Heimat
„einzufügen“ oder außen vor zu bleiben. Sie muss sich den Subjektivitäten
auch öffnen (und eine Heimat, die sich abschotten muss, ist jedenfalls
keine gute).
Vor allem aber behauptet Eberhard Rathgeb, wie Senthuran Varatharajah auf
seine Weise auch, einen Raum: So wie für Varatharajah das Schreiben eine
Möglichkeit bietet, sich über Fremdheitsgefühle auszutauschen, so bietet
für Rathgeb das Nachdenken über Heimat eine Möglichkeit, sich über
kulturelle Traditionen und geteilte Erfahrungen zu verständigen, über alle
Schwierigkeiten hinweg und mit allen, die sich angesprochen fühlen.
## Verbindungslinien zu den Exilerfahrungen
Was die Bücher eint, ist das Tastende: Von ihren jeweiligen konkreten
Hintergründen aus unternehmen sie den Versuch, so wahrhaftig und
reflektiert wie möglich über ihre jeweiligen Erfahrungen zu sprechen. Zu
behaupten, dass die beiden Bücher dabei in einem Dialog miteinander stehen,
wäre zu viel gesagt. Aber immerhin lassen sich die Räume, die sie eröffnen,
miteinander verbinden.
Denn so wenig sich Rathgebs Spurensuche auf eine deutsche Perspektive
reduzieren lässt, so wenig lässt sich Varatharajahs Roman auf migrantisches
Schreiben verhaften. Statt auf Fremdheit zielt sein Roman eher darauf, die
Kategorien von Eigenem und Fremdem überhaupt zu dekonstruieren, da trifft
er sich mit vielen avancierten Positionen etwa in der Popmusik. Außerdem
lassen sich Verbindungslinien zu den Exilerfahrungen etwa eines Stefan
Zweig oder auch Thomas Mann ziehen, die Rathgeb beschreibt. Die deutsche
Mainstreamkultur („wir“) ist eben nicht so mit sich identisch, wie sie in
der Abgrenzung gegen vermeintlich Fremdes manchmal tut.
Die Konkretheit der von Senthuran Varatharajah verhandelten Erfahrungen –
„nur gebrochenes deutsch wird uns zugestanden. es liegt an unseren namen.
es liegt an meiner haut“ – darf man dabei aber keineswegs wegdeuten.
17 Mar 2016
## AUTOREN
Dirk Knipphals
## TAGS
Heimat
Migration
Deutschland
NS-Opfer
Philosophie
Schwerpunkt Landtagswahlen
Schwerpunkt Flucht
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