# taz.de -- Buch über Philosoph George Steiner: Gäste des Lebens | |
> Der Schriftsteller, Literaturwissenschaftler und Philosoph George Steiner | |
> lässt sich von Laure Adler über sein Denken befragen. | |
Bild: George Steiner, Jahrgang 1929 (Archivbild, 2003) | |
InZeiten ausufernden Wissens, das abrufbar ist, aber immer seltener in | |
unmittelbarem Bezug zur Lebenswelt des Einzelnen steht, sind Spezialisten | |
gefragt, weniger der philosophisch gebildete Universalgelehrte, der es sich | |
angewöhnt hat, von der Vergangenheit her zu argumentieren. | |
Im Bereich der Geisteswissenschaften ist George Steiner, Jahrgang 1929, | |
solch ein Universalgelehrter, und man muss, gerade nach Lektüre seines | |
neuen Buchs „Ein langer Samstag“, das aus einem ausführlichen Interview mit | |
der französischen Kulturjournalistin Laure Adler besteht, dankbar sein, | |
dass es ihn (noch) gibt. | |
Steiner, aus einer jüdischen Familie stammend, in Paris geboren, ist | |
Schriftsteller, Philosoph, Literaturwissenschaftler; er lehrte an der | |
Universität Genf und in Cambridge, das zu seiner Wahlheimat wurde. Wir | |
verdanken ihm unter anderem das Heidegger-Buch („Heidegger: Eine | |
Einführung“, erschienen 1989), in dem der Autor das Kunststück | |
fertigbringt, einem großen Philosophen seine Größe zu belassen, ohne das | |
Schäbige der dazugehörigen Existenz zu verschweigen. | |
## Mysterium Heidegger | |
Von seiner Wertschätzung für den umstrittensten deutschen Philosophen lässt | |
sich Steiner auch im Rückblick nichts abhandeln: „Ich bin der Ansicht …, | |
dass wir es bei Heidegger mit einem Titanen der Philosophie zu tun haben. | |
Einem tückischen Titanen. Ich kann mir das Denken des zwanzigsten | |
Jahrhunderts … nicht ohne Heidegger vorstellen … Auf die Frage nach seiner | |
Beziehung zum Nationalsozialismus haben die Nazis selbst die beste Antwort | |
gegeben: Angesichts seines Ehrgeizes, Rektor der Universität zu werden, | |
ließen die Naziautoritäten im Berlin der Jahre 1933/34 wissen: ‚Nein, das | |
ist ein Privatnationalsozialist.‘“ | |
Da das Private aber bekanntlich nie ganz privat bleibt und mit Konsequenzen | |
zu rechnen hat, ist ein Zusatz angebracht: „Das entschuldigt keineswegs das | |
wahre Mysterium. Den wahren Frevel: seine Weigerung nach dem Krieg, sich | |
zur Schoah, zur Politik der Konzentrationslager, zum unmenschlichen Horror | |
der Nazis zu äußern. Im Gegenteil … sprach er noch 1953 vom großen | |
verlorenen Ideal dieser Bewegung.“ | |
Steiner, von Laure Adler kenntnisreich und keineswegs unterwürfig befragt, | |
gibt Auskunft über sein Denken; dabei kommt er, wie auch schon die | |
Kapitelüberschriften verraten, auf eine Vielzahl von Themen zu sprechen, | |
die letztlich ein ganzes Leben umfassen: „Eine bewegte Erziehung“, „Ein | |
Gast auf Erden sein. Reflexionen zum Judaismus“, „Jede Sprache öffnet ein | |
Fenster in eine neue Welt“, „Gott ist der Onkel Kafkas“ und, als eine Art | |
vorläufiges Fazit: „Die Wissenschaften vom Menschen können zur | |
Unmenschlichkeit beitragen. Das zwanzigste Jahrhundert hat den Menschen | |
moralisch verarmt.“ | |
Gerade der Hinweis auf die Wissenschaften vom Menschen, auf die sich ja | |
nicht wenige viel zugute halten, wird bei Steiner zu einem Fortdenken in | |
eigener Sache genutzt, das nicht günstig ausfällt: „Wäre es möglich“, f… | |
er, „dass die Wissenschaften vom Menschen zur Unmenschlichkeit führen? Sie | |
halten uns vom Leben fern, sie vermitteln uns eine solch große fiktionale | |
Intensität, dass die Realität daneben blass erscheint.“ Die schönen Künst… | |
denen so viele ambitionierte Theorien gelten, arbeiten womöglich an ihrer | |
Selbstabschaffung, was aber, auch aus Beschäftigungsgründen, keiner | |
wahrhaben will. | |
## Der Tod macht uns Angst | |
Steiner weiß um die Fragwürdigkeit, in die sein Berufsstand, nicht ganz | |
unverschuldet, geraten ist: „Die Todeslager, die stalinistischen Lager, die | |
großen Massaker … entstammten der russischen und europäischen Zivilisation, | |
sie entstammten den Zentren unserer größten künstlerischen, philosophischen | |
Errungenschaften; und die Geisteswissenschaften, die schönen Künste haben | |
keinen Widerstand geleistet. Im Gegenteil, in sehr vielen Fällen haben | |
bedeutende Künstler unbekümmert mit dem Unmenschlichen kollaboriert.“ | |
Der Mensch wird, wenn es ihm individuell vergönnt ist, immer älter. Wir | |
wissen es, und es macht uns, ehrlich gesagt, auch ein wenig Angst, zumal | |
die Frage aller Fragen, was denn da nach dem Tod noch kommen könnte, auf | |
ewig ungeklärt bleibt. | |
Steiner jedoch wäre nicht Steiner, wenn er nicht längst auch über das | |
Sterben nachgedacht hätte, das er selbstbestimmt haben möchte: „Dass man | |
Menschen gegen ihren Willen am Leben erhält … ist unfassbar. Ein | |
schrecklicher Sadismus. Was dieses Problem und auch die Abtreibung angeht, | |
ist die christliche Haltung meinerAnsicht nach grauenvoll und unhaltbar; | |
das sage ich völlig gelassen und in aller Öffentlichkeit.“ | |
Bevor jedoch gestorben wird, muss „man weitermachen“; vorschnell aufgeben | |
sollte man nicht, denn: „ … wir sind Gäste des Lebens, um weiterhin zu | |
kämpfen, um die Dinge ein ganz klein wenig zu verbessern … Wird der Mensch“ | |
nach einem langen Samstag „einen Sonntag erleben? Man kann es bezweifeln.“ | |
„Ein langer Samstag“ ist ein sehr lesenswertes, von Nicolaus Bornhorn | |
vorzüglich übersetztes Buch, das uns einen Autor näherbringt, der noch zu | |
Lebzeiten wiederentdeckt werden kann. | |
1 May 2016 | |
## AUTOREN | |
Otto A. Böhmer | |
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