| # taz.de -- Jenseits von Kreuzkölln: Alle raus hier! | |
| > Zentrale Wohnungen sind kaum noch bezahlbar. Viele verlassen deshalb den | |
| > S-Bahn-Ring. Unsere Autorin ist gar nicht so unglücklich mit dieser | |
| > Entscheidung. | |
| Bild: Jenseits der Innenstadt ist die Bewegungsfreiheit oft erheblich größer.… | |
| Es war wohl diese eine Wohnungsbesichtigung in Neukölln, bei der mir klar | |
| wurde, dass ich mich von den hippen Ecken Berlins verabschieden musste. Ich | |
| zwängte mich gerade an der Maklerin und ihrer Louis-Vuitton-Tasche vorbei | |
| und murmelte „Auf Wiedersehen“. Sie wehrte immer noch Zuspätgekommene an | |
| der Haustür in der Emser Straße ab. An diesem Samstag war das die härteste | |
| Tür Berlins. Dahinter: 2 Zimmer zur Straße, Altbau, 60 Quadratmeter, | |
| Dielen, 3. Stock, undichte Fenster, winziger Nordbalkon, 800 Euro warm, | |
| befristet, Maklerprovision. | |
| Mich trieb der ständige Lärm am Schlesischen Tor, wo ich damals wohnte, | |
| langsam, aber sicher in den Wahnsinn: das grölende Partyvolk, die | |
| ohrenbetäubenden Sirenen, die quietschende U-Bahn und die auf der Straße | |
| zerberstenden Glasflaschen. Ich musste da weg, wollte eine kleine Wohnung | |
| oder WG, meinen bezahlbaren Frieden. | |
| An jenem Februarmorgen im vergangenen Jahr fragte ich mich indes, wie ich | |
| das jemals schaffen sollte. Mit hundert anderen Bewerbern stand ich vor der | |
| freien Wohnung in der Emser Straße, in 10er-Gruppen wurden wir | |
| reingelassen. Alle riefen durcheinander, es war wie an der Börse: Da war | |
| die „ruhige Familie mit zwei Kindern“, das „kinderlose | |
| Nichtraucher-Pärchen“ und die Studenten, die die Jobs ihrer Eltern rufend | |
| und mit diversen Bürgschaften wedelnd um die Gunst des Maklers buhlten. Als | |
| taz-Journalistin mit Hund hatte ich nicht den Hauch einer Chance. | |
| Alles, was man zu jener Zeit (und heute ist es nicht anders) in Mitte, | |
| Kreuzberg und Neukölln kriegen konnte, waren Erdgeschosswohnungen mit Blick | |
| auf Mülltonnen oder Wohnungen der Kategorie „Bastlertraum“ – oft zu | |
| unverschämten Preisen. Renovierte 40 Quadratmeter kosteten hier schon mal | |
| 500 Euro kalt. Also beschloss ich, mich außerhalb des Stadtbahnrings | |
| umzusehen. Wenn ich das Freunden erzählte, sahen sie mich meist mit einer | |
| Mischung aus Mitleid und Unverständnis an. | |
| ## Landung in Tempelhof | |
| Schließlich landete ich bei einer Besichtigung in Tempelhof. Zwischen | |
| Bosepark, Franckepark, Ufa-Fabrik und Tempelhofer Hafen liegen hier einige | |
| hübsche Altbauten nahe der U6, Station Kaiserin-Augusta-Straße. Die Anzeige | |
| versprach zwei Zimmer zum grünen Hinterhof, 60 Quadratmeter, Dielen, | |
| saniert und renoviert, trockener Keller, Westbalkon, 2. Stock, | |
| provisionsfrei, unbefristet. | |
| Und so war es auch. Der Herr von der Hausverwaltung hatte sich tatsächlich | |
| Zeit genommen – nur für mich. Eine Woche später unterschrieb ich den | |
| Mietvertrag. Ohne Rufen und Rempeln. Preislich entspricht die Wohnung auch | |
| nicht mehr den viel gepriesenen „alten Mietverträgen“, aber sie ist | |
| günstiger als Vergleichbares in der Innenstadt. | |
| Tempelhof kann nicht mithalten mit den tollen Bars und Restaurants in | |
| Kreuzberg, Mitte, Neukölln. Meine Freunde treffe ich natürlich immer noch | |
| da – und, zugegeben, der Weg kostet mich manchmal ein Grummeln. Aber die U6 | |
| ist vor der Tür, ich bin vier Stationen vom Bergmannkiez entfernt und in 20 | |
| Minuten im Schillerkiez. | |
| Wenn ich einen Tag in Neukölln verbringe, denke ich manchmal etwas wehmütig | |
| an die Wohnung in der Emser Straße. Aber spätestens, wenn ich morgens die | |
| Eichhörnchen auf dem Nussbaum vor meinem Küchenfenster beobachte oder mit | |
| meinem Hund durch die Tempelhofer Parks ziehe und im Müllerskind einen | |
| Kaffee trinke, bin ich wieder zufrieden mit meiner Wahl. | |
| 28 Feb 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Saskia Hödl | |
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