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# taz.de -- Landtagswahl in Baden-Württemberg: Der Bahnhof entzweit die Bewegu…
> Der Protest gegen Stuttgart 21 hob vor fünf Jahren den grünen
> Ministerpräsidenten Kretschmann mit ins Amt. Und jetzt?
Bild: Gigantisch, umstritten und noch lange nicht fertig: Stuttgart 21, hier al…
STUTTGART taz | Die Baugrube liegt da, mitten in der Stadt. Die Bagger und
Caterpillar-Raupen sehen aus wie Spielzeug in dem riesigen umgegrabenen
Grund. Bald wird das die größte Baustelle Europas sein. Hier entsteht
Stuttgart 21, jener so gigantische wie umstrittene Tiefbahnhof, der noch
vor wenigen Jahren die ganze Stadt spaltete und von dem selbst Bahn-Chef
Rüdiger Grube sagt, dass man ein so gigantisches Projekt „heute nicht noch
einmal beginnen würde“.
Während auf der Baustelle Fakten geschaffen werden, geht in der
Fußgängerzone vor dem Neuen Schloss der Kampf weiter. Montag für Montag
treffen sich hier um die tausend Gegner. Zwar ist ihre Zahl seit dem
Höhepunkt der Proteste deutlich gesunken und das Durchschnittsalter
sichtbar gestiegen, aber noch immer tragen sie die Buttons mit dem
durchgestrichenen S 21-Logo und lauschen engagierten Ansprachen, Kabarett
und Musik. Und rufen wie früher: „Oben bleiben!“
Doch der Ruf verhallt weitgehend ungehört. Nach dem verlorenen
Volksentscheid von 2011 sei „der Käs‘gegessen“, wie Ministerpräsident
Winfried Kretschmann betont volkstümlich sagt. Sein Verkehrsminister
Winfried Hermann erklärt immer wieder mit zusammengebissenen Zähnen, das
Projekt sei zwar falsch, „aber jetzt bauen wir es halt“.
Auch wenn die Baugrube jeden Tag weiterwächst – die Leute der Montagsdemo
werden sich nicht damit abfinden. Rechtsanwalt Eisenhart von Loeper, ein
Aktivist der ersten Stunde, hat eine Klage wegen Veruntreuung gegen
Politiker und Bahnvorstände angestrengt. Und weil die Staatsanwaltschaft
Berlin die Ermittlungen nicht aufnehmen will, klagt er nun auch gegen die
Ermittler. Die Parkschützer haben letzte Woche ein Gutachten vorgelegt, das
belegen soll, dass der Ausstieg zum jetzigen Zeitpunkt finanziell um 6
Milliarden Euro günstiger wäre, als den Bahnhof zu Ende zu bauen.
Pressekonferenz der Linkspartei in einem Gewerkschaftshaus: „Ich habe
Winfried Kretschmann und Winfried Hermann zweimal gewählt“, sagt dort
Siegfried Bassler: „zum ersten und zum letzten Mal.“ Bassler ist 82 Jahre
alt, er war in den 70er Jahren Fraktionsvorsitzender der SPD im Stuttgarter
Stadtrat. Jetzt unterstützt er einen Wahlaufruf für die Linkspartei als für
ihn einzig wählbare Stimme gegen Stuttgart 21. Das öffentliche Interesse an
dem Wahlaufruf hält sich in Grenzen. Etwa zwanzig Funktionären sitzen ganze
zwei Journalisten gegenüber.
## Gegner ohne Mehrheit
Man müsse wissen, dass die Volksabstimmung keine richtige gewesen sei,
doziert die Linke-Politikerin Sybille Stamm. Es sei nur über die
Finanzierung durch das Land abgestimmt worden, nicht über das Projekt
selbst. Dass die Gegner bei der Abstimmung nicht einmal in Stuttgart eine
Mehrheit hatten, darüber wird auf der Veranstaltung nicht gesprochen. Neben
Bassler sitzt Rosemarie Glaser, eine ehemalige Landtagsabgeordnete der
Grünen aus Freiburg.
Zusammen mit einem anderen Ex-Grünen, Jürgen Rochlitz, wollte sie mit einem
charmant formulierten Brief ihren ehemaligen Fraktionskollegen und jetzigen
Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann umstimmen. Er solle sich doch an
alte grüne Erfolge erinnern. Der schnelle Brüter in Kalkar zum Beispiel sei
noch sechs Jahre nach seiner Fertigstellung stillgelegt worden. Als
„allseits beliebter Ministerpräsident“ müsse er so ein Projekt nicht zu
Ende führen.
Eine Antwort hat Glaser nicht bekommen. Auch sie empfiehlt jetzt die Wahl
der Linkspartei. Die Linke mit ihrem Spitzenkandidaten Bernd Riexinger hat
den Übriggebliebenen der Antibahnhofsbewegung so etwas wie politisches Asyl
gegeben. Es war eine kleine Sensation in Stuttgart, als im Herbst Hannes
Rockenbauch verkündete, er trete bei der Landtagswahl für die Linke an. Der
junge, scharfsinnige und ebenso temperamentvolle Kopf der
Antibahnhofsbewegung sitzt bereits im Stadtrat, dort sind die S 21-Gegner
mit der Linkspartei eine Fraktionsgemeinschaft eingegangen.
Die Nähe zur Linkspartei im Landtagswahlkampf ist nicht unumstritten.
Vielleicht auch deshalb setzt sich Rockenbauch mit quietschgrünen
Wahlplakaten deutlich vom Erscheinungsbild der Linkspartei ab.
## Die alte Geschichte von Realos und Fundis?
„Nach dem Volksentscheid hat sich die Bewegung gespalten“, sagt die
Stuttgarter Autorin Johanna Henkel-Waidhofer, die den Protest immer ganz
aus der Nähe und trotzdem kritisch beobachtet hat. Der Ton habe sich damals
in Teilen der Bewegung verschärft. Politiker, auch die der grün-roten
Regierung, wurden „Lügenpack“ gerufen – was in den Ohren vieler allzu se…
nach Pegida klang. Der „BUND“, „Pro Bahn“ und der „VCD“ haben das B…
der Bahnhofsgegner im Jahr 2014 verlassen. Es sei um strategische Fragen
gegangen, heißt es offiziell, man wolle aber Teil der Protestbewegung
bleiben. Doch seitdem geht man weitgehend getrennte Wege.
Es ist die alte Geschichte von Fundis und Realos. Da sind jene, die sich
nicht damit abfinden können, vielleicht recht zu haben, aber nicht recht
bekommen zu haben. Sie fühlen sich betrogen: von Schlichter Heiner Geißler,
der trotz aller Kritik den Bau, wenn auch unter Auflagen, empfohlen hat;
vom jetzigen Ministerpräsidenten Kretschmann, den sie gewählt haben, damit
er den Wahnsinnsbahnhof verhindert, und von seinem Verkehrsminister, der
feurige Reden am Bauzaun gehalten und nach der Wahl seine Handynummer
geändert hat, unter der er früher für die Bewegung erreichbar war.
Und sie fühlen sich vom Volk betrogen, das doch ganz anders abgestimmt
hätte, wenn es nur genauso gut wie sie über Bahnsteighöhen, Verkehrstakte
und Tunnelbau Bescheid gewusst hätte. Doch so funktioniert Politik nicht,
das haben die Realos der Bewegung längst eingesehen. Die Schlacht ist
verloren, jetzt geht es darum, Bahn und Politik auf die Finger zu schauen.
Der Bahn bei den Baukosten. Der Stadt beim Bebauungskonzept des riesigen
Areals, das frei werden wird, wenn der Bahnhof irgendwann in zehn Jahren
unter der Erde verschwunden ist. Es dürfe nicht irgendwelchen
Immobilienspekulanten in die Hände fallen, forderte auch Schlichter
Geißler.
## Frieden mit der Niederlage gemacht
Walter Sittler gehört zu diesen Realos. Der Schauspieler lebt seit 28
Jahren in Stuttgart mitten in der Innenstadt und war lange ein
Aushängeschild der Protestbewegung auf Bühnen und im Fernsehen. Jetzt macht
er in Stuttgart für Winfried Hermann Wahlkampf. Sittler ruft aus seinem
Ferienhaus in Schweden zurück. Er habe seinen Frieden mit der Niederlage
gemacht, betont er, nicht mit dem Bahnhof. Der sei immer noch dumm und
falsch. Er freut sich, dass das inzwischen auch viele seiner einstigen
Gegner zugeben.
Die Bewegung habe trotz allem viel erreicht, sagt Sittler. Es gebe in der
Stadt eine ganz neue Diskussionskultur für politische Themen. Aber noch
wichtiger sei: Keine Stadt würde es seit Stuttgart 21 mehr wagen, auch nur
eine Straßenbahnhaltestelle ohne die Beteiligung der Bürger zu verlegen.
Und immerhin habe der Protest eine grün-rote Regierung ermöglicht und die
habe aus seiner Sicht auf so vielen Feldern den Aufbruch geschafft.
Realos und Fundis der Bewegung treffen sich noch einmal zur Diskussion, an
einem Montagabend im Januar. Fünf Jahre nach Geißlers Schlichterspruch soll
noch einmal das Ergebnis der Diskussionsrunde bewertet werden, die damals
zeitweise eineinhalb Millionen Menschen im Fernsehen verfolgten. Ein
Jubiläum, wie man es nur in Stuttgart begehen kann. Auf der Bühne treffen
sich Heiner Geißler, Verkehrsminister Hermann, der Architekt und ehemalige
SPD-Bundestagsabgeordnete Peter Conradi, auch ein Gegner von Stuttgart 21.
Draußen lärmen die Montagsdemonstranten mit Transparenten wie „Schöpfung
bewahren, Stuttgart 21 verhindern“, wie in den besten Zeiten der Bewegung.
## Fünf Jahre nach dem Schlichterspruch
Auch drinnen geht es hoch her. Geißler versucht wortreich, seinen
Schlichterspruch zu rechtfertigen, der eigentlich keiner war, weil sich die
Bahn nicht daran gehalten hat. Winfried Hermann gesteht Fehler bei der
Kontrolle der Bahn ein. Auch der sogenannte Stresstest, der die
Leistungsfähigkeit des Tiefbahnhofs nachweisen sollte, sei keiner gewesen.
Doch viele Zuschauer wollen lieber ihre eigene Meinung hören. Geißler wird
ausgepfiffen, als er sagt: „In der Politik gibt es keine absoluten
Wahrheiten“, und vom Balkon schreien sie „Lüge!“ und „Verrat!“.
Sittler ist an diesem Abend Teil des Programms. Er rezitiert als
Diskussionsimpuls Passagen aus dem Schlichterspruch. Die aufgeheizte
Stimmung wie an diesem Abend sei auch ein Grund gewesen, warum er
irgendwann aufgehört habe, die Montagsdemos zu besuchen. Der Ton der
Protestierenden erschien ihm zu verbittert. Sittler sagt, er habe viel aus
der Niederlage gelernt. Auch für sich selbst. Und eines dürfe man nicht
vergessen, wenn man zum Beispiel die Krisen in Europa und der Welt
betrachtet: „Es geht hier nur um einen Bahnhof.“
20 Feb 2016
## AUTOREN
Benno Stieber
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