# taz.de -- Xenophobie in Osteuropa: „Sie sehen sich als Verlierer“ | |
> Osteuropäer sind enttäuscht von der EU und sehen sich häufig als Opfer | |
> der Geschichte, sagt Juliana Roth, Professorin für Interkulturelle | |
> Kommunikation. | |
Bild: Teilnehmer einer flüchtlingsfeindlichen Kundgebung in Warschau | |
taz: Frau Roth, in Osteuropa macht die Gesellschaft einen Rechtsruck. Die | |
EU-Oststaaten tun sich mit Kontingenten an Flüchtlingen schwer. Große Teile | |
der Bevölkerung stehen hinter den verbalen Ausfällen ihrer Politiker gegen | |
Muslime. Was ist da los? | |
Juliana Roth: Ich reise viel durch die postsozialistischen Länder und sehe, | |
wie es den Leuten dort geht. Mit der Wende ist es zu drastischen sozialen | |
Verwerfungen gekommen. Zusammen mit dem Patriotismus, an dem dort gestrickt | |
wird und der fehlenden Erfahrung mit Migranten, ergeben die Forderung der | |
EU Sprengstoff. | |
Was sind das für Verwerfungen? | |
Nirgendwo hat der versprochene, wirtschaftliche Aufschwung die breite | |
Bevölkerung wirklich erreicht. Hingegen regiert der Klientelismus. Viele | |
Fachkräfte sind arbeitslos, dafür fährt jetzt ein ungelernter Kleinhändler, | |
der die richtigen Leute kennt, den neuesten Mercedes. Der Beitritt in die | |
EU hat vor allem der alten Nomenklatura genutzt. Einer kleptokratischen | |
Elite gelingt es, sich über Gesetze hinwegzusetzen und EU-Fördergelder in | |
die eigenen Taschen zu stecken. Es gibt immer noch keine richtige | |
Zivilgesellschaft. | |
Ein Beispiel? | |
Nehmen wir Bulgarien: Auf Demonstrationen lenken gekaufte Mobs den Verlauf | |
zugunsten der sie bezahlenden Parteien. Betrügereien sind Alltag. Wenn Sie | |
tanken, wissen Sie nie, ob das Benzin nicht gestreckt wurde. An | |
öffentlichen Schulen kommt das „Abziehen“ oft vor. Wenn z. B. ein Schüler | |
mit neuen Schuhen hingeht, kommt er vielleicht auf Socken nach Hause. Die | |
Eltern schicken ihre Kinder also auf Privatschulen. Dann können sie aber | |
kaum noch die Miete zahlen. Oder: In der Slowakei werden Leute mit | |
bestimmten Autokennzeichen nie geblitzt, auch wenn sie zu schnell fahren. | |
Solche Beispiele finden Sie überall. | |
Die osteuropäischen Gesellschaften stecken nicht nur in einer | |
wirtschaftlichen, sondern auch in einer moralischen Krise? | |
Ja, es sind angespannte, misstrauische Gesellschaften. Es gibt in allen | |
osteuropäischen Sprachen ein Wort für „die Unsrigen“. Die Welt wird | |
eingeteilt in Menschen, denen man vertraut und solche, denen man misstraut, | |
innerhalb der eigenen Gesellschaft und gegenüber anderen Kulturen. | |
Und zu den „Unsrigen“ zählen die Flüchtlinge nicht | |
Nein, sie machen Angst. Umso stärker stützen sich die Menschen auf ein „Wir | |
und die Anderen.“ Diese Kategorie wird auf der ganzen Welt benutzt. Die | |
Frage ist immer, wie sehr sie benötigt wird. Die Leute in Osteuropa sagen: | |
„Wir haben Sorgen bis zum Hals. Was interessieren uns da irgendwelche | |
Araber?“ Wenn „diese Araber“ ihnen dann noch von der EU aufgedrückt werd… | |
ist der Widerstand doppelt groß. | |
Das heißt, Flüchtlinge werden nicht nur prinzipiell abgelehnt, sondern | |
auch, weil sie über die EU zugeteilt werden? | |
Genau. Die Enttäuschung über die EU ist grenzenlos. Beim Eintritt in die EU | |
dachten viele: Wir kehren heim in den Westen. Stattdessen spüren sie, dass | |
sie nicht als ebenbürtige Europäer gelten wie Franzosen oder Deutsche. Das | |
Label „Osten“ oder „Balkan“ bleibt ihnen ewig aufgedrückt. Sie nehmen … | |
als Verlierer der Modernisierung wahr. | |
Die Ressentiments gegen Muslime scheinen aber älter zu sein. | |
Es gibt zwei Hauptgründe. Zum Selbstkonzept vieler Osteuropäer, zum | |
Beispiel der Ungarn gehört es, sich als uraltes Bollwerk zu verstehen gegen | |
alle möglichen Barbaren aus dem Osten. Gegen die Hunnen, Mongolen, später | |
gegen das Osmanische Reich, den Islam. Auch die Serben sprechen von der | |
grünen, also muslimischen Diagonale, die sich von Zagreb bis Istanbul zieht | |
als eine Art Frontlinie zum Orient. Anderes Beispiel: Polnische Truppen | |
haben 1683 für das Habsburger Reich gegen die Türken vor Wien gesiegt. Die | |
Rettung des Abendlandes ist als heroische Tat tief im Bewusstsein der Polen | |
verankert. Zugleich empfinden viele Osteuropäer es als Kränkung, dass sie | |
für dieses Sich-für-den-Westen-Aufopfern nie echten Dank gekriegt haben – | |
so wie sie ihn jetzt nicht kriegen, wenn sie Zäune an der EU-Außengrenze | |
bauen. | |
Aber die historischen Beispiele sind doch alle lange her! | |
Für Sie vielleicht! Osteuropäische, vor allem slawische Kulturen sind | |
vergangenheitsorientierte Kulturen. Für sie lebt Geschichte. Anthropologen | |
sprechen auch von „frozen past“. Vergangenheit wird eingefroren und kann | |
jederzeit aufgetaut werden – mit all ihren Gefühlen. In Südosteuropa gibt | |
es die Vorstellung einer zweigeteilten Geschichte. Erst war man Held, dann | |
Opfer – sei es durch die Unterwerfung durch die Osmanen oder anderer | |
Ungerechtigkeiten der Geschichte. Vergangenheitsorientierung ist erst mal | |
nichts Falsches. Aber sie kann instrumentalisiert werden: In Ungarn | |
verkaufen sich aktuell gut Kühlschrankmagneten mit dem Umriss von | |
Großungarn, also der Grenzverlauf mit den Gebieten, die 1920 durch den | |
Trianon-Vertrag verloren gingen, und denen noch heute hinterhergetrauert | |
wird. Versuchen Sie mal, selbst mit einem jungen Ungarn darüber sachlich zu | |
reden. Sie werden eine ausschließlich emotionale Reaktion bekommen. | |
Gegen das Gefühl, dass „alles zerfällt“ reaktiviert man dieses | |
Geschichtskonzept und beschwört nationale Zusammengehörigkeit? | |
Genau. In Mazedonien beruft man sich auf die Antike. Wenn Sie über die | |
Grenze fahren, kriegen Sie auf Ihr Mobiltelefon die Nachricht „Welcome to | |
Macedonia, the cradle of civilization.“ In Skopje sehen Sie dann, wie | |
dieser bitterarme Staat derzeit Millionen Euro ausgibt und die Hauptstadt | |
mit neuen Denkmälern übersät, mit Figuren, die angeblich besonders | |
mazedonisch waren. Alexander der Große ist zum Gründer des Staates | |
avanciert, der Flughafen und die wichtigste Autobahn tragen seinen Namen, | |
ihm ist eine riesige Statue im Zentrum gewidmet. Zugleich wird an den | |
Schulen nur slawische Geschichte gelehrt, die große albanische Minderheit | |
negiert. | |
Sie sprachen von einem zweiten Grund für Fremdenangst? | |
Durch den Eisernen Vorhang war es jahrzehntelang unmöglich, zu reisen und | |
fremde Kulturen und Andersheit zu erleben. Aber das Hauptproblem ist, wie | |
mit Fremdheit im Land umgegangen wurde. Da ist auch die DDR ein plakatives | |
Beispiel. Vertragsarbeiter aus Vietnam, Angola oder Kuba wurden | |
untereinander und von den Ostdeutschen ferngehalten. Sie hatten extra | |
Wohnheime, kein Recht auf Familienzuzug. Kontakte zu Einheimischen waren | |
genehmigungs- und berichtspflichtig. Ausländer, die mit Ostdeutschen eine | |
Liaison eingingen und erwischt wurden, wurden ausgewiesen. Mit Fremdheit | |
umgehen, hieß auf Abstand gehen. Das wirkt heute bei der Einstellung vieler | |
Ostdeutscher gegenüber Fremden nach. | |
Genau das richtige Feld für die Interkulturelle Kommunikation? | |
Das sollte man meinen. Aber ich habe für den Bayerischen | |
Volkshochschulverband ein großes Programm für Interkulturelle Kompetenz | |
(IKK) entwickelt, das bundesweit angeboten wird. Es ist zum Beispiel für | |
Sozialarbeiter oder für Lehrer gedacht, die mit Ausländern zu tun haben. | |
Diese Kurse werden in den neuen Bundesländern aber einfach nicht gebucht, | |
die kann man anbieten wie Sauerbier. Es gibt zwar zwei Universitäten, an | |
denen die IKK gelehrt wird, aber in den Institutionen herrscht kein | |
Bewusstsein für die Wichtigkeit der Interkulturellen Kompetenz. | |
Wie lehren Sie denn Interkulturelle Kompetenz? | |
Zuerst lernen alle Studenten, egal ob in München oder in Sofia, dass ihre | |
eigenen Werte, Sicht- und Verhaltensweisen, die sie vielleicht für | |
allgemeingültig gehalten haben, in ihrer Kultur verwurzelt sind. Danach | |
nehmen wir Begegnungen von Menschen mit unterschiedlichem kulturellen | |
Hintergrund in den Blick und betrachten, wo es im Zusammentreffen im | |
Ausland oder in Migrationsgesellschaften zu Kollisionen kommen kann. Es | |
gibt praktische Übungen wie ein Kartenspiel, bei dem zwei Gruppen | |
gegeneinander spielen, aber jede nach ihren eigenen Regeln. Die | |
entstehenden Spannungen bewirken einen Aha-Effekt. Die Studierenden sollen | |
lernen, kulturelle Zusammenstöße unaufgeregt zu bearbeiten, Ethnozentrismus | |
und Stereotypen zu reflektieren, und sich im Perspektivenwechsel zu üben. | |
Sie bauen in Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Griechenland, der Türkei, auch in | |
Russland an Universitäten Seminare für Interkulturelle Kommunikation auf. | |
Wie begeistern Sie die Studenten dort? | |
Das läuft meist über die Germanistik. Am Anfang halten die Studenten die | |
Kurse für eine Art „Fettnäpfchen-Lehre“: Was muss ich in Deutschland tun, | |
um nicht anzuecken? In Wirklichkeit soll das Studium ja zu einer generellen | |
interkulturellen Kompetenz und Öffnung führen. Das Interesse fasst langsam | |
Fuß. | |
Aber was ist jetzt zu tun? Die Flüchtlinge stehen vor der Tür, und wer zur | |
EU gehören will, muss auch Verpflichtungen erfüllen. | |
Grob gesagt: Der Osten muss üben, mit Fremdheit zurechtzukommen. Er braucht | |
wirtschaftliche Bedingungen, damit die Menschen eine echte Zukunft sehen | |
und hochqualifizierte Leute nicht in den Westen abwandern. Dann könnten sie | |
wirklich selbstbewusst werden und sich für die gemeinsamen Anliegen Europas | |
engagieren. Aber als Kulturwissenschaftlerin kann ich Ihnen sagen: Menschen | |
verändern ihre Werte und Einstellungen nur langsam. | |
10 Feb 2016 | |
## AUTOREN | |
margarete moulin | |
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Joachim Herrmann | |
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