| # taz.de -- Kolumne Immer bereit: Ein Frauenbild für 4.000 Euro | |
| > Ausgerechnet Gisela, Inbegriff von junggebliebener Rentnerin, hat sich | |
| > selbst optimieren sprich operativ verschönern lassen. Warum nur? | |
| Bild: Danach ist alles glatt: Ärzte bei der Arbeit. | |
| Jetzt ist es passiert. Gisela hat sich absaugen lassen, meine | |
| Fitnessstudiofreundin, die 69-Jährige mit dem Gang einer Gazelle. | |
| Drei Wochen hat sie gefehlt, ich hatte mir schon Sorgen gemacht. Und dann | |
| war sie gestern wieder da. Mit Brille und roten Augen. Ich wäre fast vom | |
| Crosstrainer gefallen, als ich sie sah. „Gisela!“, rief ich, „was ist | |
| passiert?“ Gisela lächelte und ihre blutunterlaufenen Äuglein strahlten. | |
| Okay, dachte ich, es muss eine sehr schwere Krankheit gewesen sein, dass | |
| sie jetzt so glücklich ist. Und dann winkte mich Gisela beiseite und | |
| erzählte mir alles. Wie sie sich die Schlupflider hat machen lassen und die | |
| Tränensäcke und die Wangen etwas aufspritzen. „Aufspritzen?“, sagte ich, | |
| „mit Silikon?“ – „Nee“, Gisela kicherte, „Eigenfett!“ Ich guckte … | |
| Ich musste an „Eigenblutdoping“ denken, das Buch von Diedrich Diederichsen | |
| über Selbstoptimierung und Selbstinvestition in der Kunst und um die | |
| Ausweitung des Kreativitätsbegriffs auf alle Bereiche des Lebens. | |
| Gisela hat sich selbst optimiert, hat sich das Fett am Bauch absaugen und | |
| an den Wangen wieder reinspritzen lassen. Sie zeigte mir sogar die Narbe, | |
| ganz klein, versteckt im Bauchnabel. „Und an den Oberschenkeln auch“, sagte | |
| sie und zeigte die Stellen. Wenn man es nicht wüsste, sähen sie aus wie | |
| Windpockennarben. | |
| Danach war ich mit meiner Freundin Tania zum Essen verabredet. | |
| „Gisela hat sich absaugen lassen!“, heulte ich, als ich in dem Café in | |
| Prenzlauer Berg ankam, „ich will mich auch absaugen lassen!“ Tania guckte | |
| mich an wie einen Welpen, der sich grade selber bepullert hat, und strich | |
| mir einmal mit der Hand über den Kopf. | |
| „Und du so?“, sagte ich zu Tania. Ihr Telefon vibrierte. Tania stöhnte | |
| genervt und drehte das Telefon um. „Meine Eltern“, sagte sie, „rufen jeden | |
| Tag 50mal an und fragen, ob ich schon vergewaltigt worden bin“. Tania wurde | |
| in Kasachstan geboren und ist in Deutschland aufgewachsen. Ihre Eltern | |
| drehen total durch, sagt sie. „Die gucken nur russisches Fernsehen, und da | |
| wird die ganze Zeit gegen Deutschland und die Geflüchteten gehetzt. Die | |
| fordern Russlanddeutsche auf, gegen Geflüchtete zu demonstrieren! Schwarzer | |
| Mann, weiße Frau und so.“ – „Ach herrje!“, sagte ich. Tania schüttelte | |
| erschöpft den Kopf. Wir redeten noch über Sexismus und Frauenbilder und | |
| Köln und die AfD und so. | |
| „Zum Glück hast du ja ein total gesundes Frauenbild“, sagte Tania zu mir. … | |
| „Selbstbild!“, sagte ich, „Mein Frauenbild ist nicht das Problem. Das | |
| Problem ist die Vorstellung, die ich von mir selber habe.“ – „Aber die | |
| basiert doch auf deinem Frauenbild.“ – „Mhm“, sagte ich und wedelte mit… | |
| Händen, „gesamtgesellschaftlicher Verblendungszusammenhang. Was willste | |
| machen? Kannst du mir 4.000 Euro leihen?“ | |
| Der Tag wird kommen, an dem jeder von uns es sich leisten kann, irgendwas | |
| „machen zu lassen“, dann ist „Bauch, Beine, Po“ nicht mehr der Name ein… | |
| Kurses im Fitnessstudio, sondern das Basic-Angebot der Beautyklinik, der | |
| „Latte to go“ unter den Schönheitschirurgen. Und dann ist jeder, der | |
| hässlich ist, selber schuld. Im Grunde auch nicht viel anders als jetzt. | |
| Ich find es so irre, dass ausgerechnet Gisela, die Frau, die für mich der | |
| Inbegriff von jung gebliebener Rentnerin war, sich nicht schön genug fand | |
| und ihre mickrige Krankenschwesternrente zusammengekratzt und den Urlaub | |
| gestrichen hat, um etwas an sich machen zu lassen. Ich finde Schönheits-OPs | |
| nicht schön. Mich gruseln die Gesichter der Hollywood-Stars, auch die mit | |
| den angeblich gelungenen Operationen. Ich mag alte Menschen. Ich mag ihre | |
| Gelassenheit. Ich hatte immer gehofft, je älter ich werde, dass ich | |
| irgendwann so gelassen sein würde wie meine Großmutter. Die hat sich in den | |
| letzten 25 Jahren ihres Lebens, in denen ich sie kannte, so absolut gar | |
| nichts aus dem Urteil gemacht, das andere über sie gefällt haben. | |
| Wenn ich jetzt Gisela sehe, denke ich: Es wird niemals aufhören. Der Druck | |
| wird niemals nachlassen und wir werden niemals aufhören, uns nur um uns | |
| selbst zu drehen. Mich macht das gerade so unglaublich müde. | |
| 7 Feb 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Lea Streisand | |
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