# taz.de -- Kolumne Immer Bereit: Return of the Betriebsweihnachtsfeier | |
> Weihnachtsfeiern folgen einer Choreografie. Dazu gehören: wenig Essen, | |
> laute Musik, Unmengen Alkohol – und dann sagen die Kollegen, was sie | |
> wirklich von einem halten. | |
Bild: Hat er genügend Alkohol im Sack? Weihnachtsmann, vielleicht unterwegs au… | |
Ich liebe Weihnachtsfeiern. Das einzig wirklich Tolle am Freischaffendsein | |
ist doch, dass man auf allen Weihnachtsfeiern gleichzeitig tanzen darf. Je | |
mehr Arbeitgeber, je prekärer die Jobs, desto größer die Partys. | |
Betriebsweihnachtsfeiern folgen, wie jedes wichtige gesellschaftliche | |
Ereignis, einer festgelegten Choreografie. Die Haupttagesordnungspunkte | |
sind: wenig Essen, laute Musik und Unmengen Alkohol. Dadurch werden alle | |
Beteiligten sehr schnell besoffen, und dann wird es lustig. Dann endlich | |
sagen einem die Kollegen mal, was sie wirklich von einem halten. | |
Normalerweise war es immer so, dass man sich zu Beginn des Abends | |
gegenseitig für Texte lobte, am Ende knutschend in einer Ecke lag und | |
zwischendurch tanzte, dass die Knöchel krachten. Auf den Weihnachtsfeiern | |
eins bis drei klappte das letztes Jahr ganz ausgezeichnet, nur Nummer vier | |
ging in die Hose. Und das lag, wie so oft, an den Tücken | |
zwischenmenschlicher Kommunikation. | |
Da robbte sich nämlich gleich zu Beginn ein Kollege von der Seite an mich | |
heran und erklärte mir erstens, wenn er mich nicht so sympathisch fände, | |
hätte er ja längst versucht, mir beruflich zu schaden. Ich dachte, ich hör | |
nicht richtig. Der Kollege war nicht viel älter als ich und seine Position | |
in der Firma nur unwesentlich sicherer als meine. „Aber weißt du“, fügte … | |
hinzu, wie um mich zu trösten, „jeden fünften Text von dir finde ich | |
richtig gut.“ Komplimente aus der Hölle, dachte ich und fing an zu lachen. | |
Ich bin mir bis heute nicht sicher, ob der Kollege nicht einfach zu | |
besoffen war, um zu merken, was er da sagte. | |
Ich wollte weggehen, um nicht noch weiter beleidigt zu werden, aber er war | |
noch nicht fertig mit seinen guten Ratschlägen: „Und außerdem“, sagte er | |
und nahm ein Schluck von seinem alkoholischen Kaltgetränk, „außerdem finde | |
ich, solltest du nicht immer sagen, dass du behindert bist.“ Ich starrte | |
ihn an. „Ich bin aber behindert“, sagte ich. Und als wäre dies wirklich das | |
einzig schlagende Argument, erwiderte er: „Für mich bist du nicht | |
behindert.“ Es ist doch immer wieder erstaunlich, wie viel Ego in einen | |
einzigen Menschen hineinpasst. | |
Es gibt in der Komiktheorie den sogenannten Dreischritt des Komischen. | |
Jedes Missgeschick wiederholt sich zweimal in sich steigernden Variationen, | |
um beim dritten Mal in einer absoluten Katastrophe zu kulminieren. Das | |
nennt man dann Pointe. | |
Der Kollege hatte mir erst gedroht, mich dann beleidigt und wollte mir | |
jetzt auch noch einen Teil meiner Identität absprechen. Das versprach ja | |
eine großartige Weihnachtsfeier zu werden. | |
Er erklärte mir ganz vernünftig, dass das Wort „behindert“ für ihn so ei… | |
negativen Beiklang hätte. „Es ist aber kein Schimpfwort“, sagte ich, „es | |
wird nur so benutzt.“ – „Aber du hast doch gar nichts“, sagte er, „nu… | |
kleinen Gehfehler.“ Ich sah ihn an. Ich kenne Leute, die würden sich auf so | |
eine Diskussion überhaupt nicht einlassen, und sie tun vermutlich recht | |
damit, weil solche Diskussionen mühsam sind und oft zu keinem Ergebnis | |
führen. Ich sah ihn an, bestellte mir ein Bier, nahm einen tiefen Schluck | |
und dachte: Ach, was soll’s, vielleicht kann ich später mal einen Text | |
drüber schreiben. Dann sagte ich: „Dieser ‚kleine Gehfehler‘, wie du ihn | |
nennst, macht, dass ich weder so schnell noch so weit laufen kann wie | |
andere, dass ich leicht das Gleichgewicht verliere und keine schweren | |
Lasten tragen darf, dass ich also, wenn ich allein mit einem Koffer in der | |
Stadt unterwegs bin, der Fahrstuhl kaputt ist und keine Rolltreppe | |
vorhanden, auf fremde Hilfe angewiesen bin.“ Er guckte mich an, lächelte | |
schief und sagte: „Aber dir würde doch jeder helfen.“ | |
Ich erklärte ihm geduldig, wie erniedrigend es ist, ständig Bittstellerin | |
zu sein, und dass mein Schwerbehindertenausweis mir das Recht verleiht, | |
Hilfestellung juristisch einzuklagen. Genau das enthebt mich dem | |
unterlegenen Status und sorgt für einen Ausgleich. Ich nahm einen Schluck | |
aus meiner Flasche. „Was dein Unbehagen an dem Wort ‚behindert‘ angeht, | |
befindest du dich übrigens in guter Gesellschaft. Es ist das Unbehagen | |
derjenigen, die so sehr der Norm entsprechen, dass sie nur durch die | |
Begegnung mit Leuten, die irgendwie anders sind, überhaupt auf die Existenz | |
einer Norm hingewiesen werden. Das Unbehagen daran, bessergestellt zu sein | |
als das benachteiligte Gegenüber, soll dann kurzerhand mit der Verneinung | |
der Ungerechtigkeit beseitigt werden. Völlig normaler Vorgang. Ändert nur | |
leider nichts an der gesellschaftlichen Realität.“ | |
Ich hatte ausgetrunken. Der Kollege schwieg. Ich ging tanzen. Sowieso das | |
Beste, was man auf Weihnachtsfeiern tun kann. | |
6 Dec 2015 | |
## AUTOREN | |
Lea Streisand | |
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