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# taz.de -- Dokumentarfilm über Altenpflege: Das wahre Gesicht von Familie
> Eine polnische Altenpflegerin in Bochum: „Family Business“ von Christiane
> Büchner erzählt von sozialer Distinktion und Interkulturalität.
Bild: Anne und ihre Pflegerin Jowita – in trauter Zweisamkeit
Im polnischen Lubin wird das Haus noch gebaut, in dem man schon lange
wohnt. Ein Rohbau quasi, fast leer. Zeug muss her. Jowita, ihr Mann,
Teenie-Tochter und die Hunde brauchen Geld. Im deutschen Bochum, Häuschen
im Grünen mit Terrasse, wird das frühere Kinderzimmer entrümpelt. „Die
braucht halt ’n Platz zum Schlafen.“ Zeug muss weg. Die Töchter von Anne,
88, dement, brauchen Jowita, ihre Arbeitskraft, ihre Zeit, 24/7.
Gleich zu Beginn baut Christiane Büchner gekonnt jene Komplementarität auf,
um die es auf allen Ebenen dieser scheinbar perfekten Win-win-Situation
gehen wird. Gleich zu Beginn aber wird es persönlich und das bleibt es. Die
Töchter nehmen ihre Fotos von der Wand, erinnern sich. Später Super-8, mit
Muttern. Abschied auf Raten. Auf den Fotos von Jowita ist deren Tochter als
Baby-Pummelchen und sie selbst vor einem roten VW-Bus zu sehen. Acht Jahre
hat sie schon mal in Deutschland gelebt. Jetzt also wieder, aber allein,
Skype halt. Noch bevor es losgeht, ist Jowita eine Zerrissene. Sie denkt an
nichts anderes als ihre erste Rückkehr nach Haus. Offen, ja erleichtert
spricht sie darüber.
Ausgerechnet an ihrem 40. Geburtstag ist es so weit: Die ausgebildete
Pflegerin steigt in den Bus nach Bochum. Dort erhält sie einen Blumenstrauß
und darf erst mal eine rauchen. Denn Annes Tochter gibt sich alle Mühe, ihr
den Start zu erleichtern. Zahnschmerzen? Oje. Soll der Zahn vielleicht noch
heute raus? Wie ihre eigene Tochter heiße. Oliwia. Was ein schöner Name!
Woher sie genau komme. Lubin. Ah, Lubina!
Anne selbst, Regentin auf der Couch und ein Glücksfall an Protagonistin,
ist überfordert und tut sich schwer mit dem Mühegeben. Das Deutsch von
„Brigitte“, wie sie Jowita nennt, hält sie für ausbau-, den Nikotinkonsum
für abbaufähig, und Käse oben drauf auf der Wurst sei „üppig“. Der Allt…
ist mal tastend, mal ruppig, voller Missverständnisse, Besserwisserei und
Kommunikationsverweigerung. In der Ersatzkonstellation zeigt sich das wahre
Gesicht von Familie. Nach zwei Monaten ist erst mal Pause, Ablöse kommt.
## Analyse des Gefühlscocktails
Wie Jowita und Anne versuchen, ein Auskommen miteinander zu finden, obwohl
sie sich nicht sonderlich sympathisch sind, beobachtet die Kamera delikat.
Manchmal bleibt sie bewusst vor der Tür und ist ganz Ohr: „Solche
Kartoffeln?“ „Guten Appetit!“ „Danke“. „Ich danke.“ „Bitte.“
So gelingt ein ausgewogenes, nicht wertendes, beide Seiten im gleichen Maße
(auch in der jeweiligen Muttersprache) zu Wort kommen lassendes und
miteinander in Bezug bringendes Dokumentieren einer ganz konkreten
Mikrowelt, die sich von den reflexhaften Argumenten der Politiker
unbeeindruckt zeigt.
Selten sieht man so viel Details, auch auf dem Gebiet der
„Interkulturalität“. Mit Radikalisierung oder war of culture hat das nichts
zu tun. Und doch spielen in jeder Geste psychische Befindlichkeit, soziale
Distinktion und kulturelle Differenz hier, auf dem Parkett der Altenpflege,
reduziert auf solche Handgriffe wie Brot-Streichen und Haare-Auftun,
genauso zusammen wie bei der Analyse des Gefühlscocktails des Attentäters
aus Molenbeek.
Um Angebot und Nachfrage gehe es, sagt Büchner, beeindruckt vom effizienten
und schlauen Handeln der Frauen. „Family Business“ sei ein Film über das
Massenphänomen polnischer Haushaltshilfen in Deutschland, den sich aus
allem raushaltenden Staat, und – ähnlich wie schon „pereSTROIKA – umBAU
einer Wohnung“ – darüber, wie sich die Spur der ökonomischen Entscheidung…
in die intimsten Familienbeziehungen hineinzieht.
So analytisch-experimentell ist auch die „Auswertung“: Den eigenen
Marktwert testend, sorgt „Kino auf Bestellung“ dafür, dass der Film vor Ort
ins Kino kommt, wenn sich vorab ausreichend Karten verkaufen lassen. In
Berlin kann man dem wunderbaren Vorspann seine Aufmerksamkeit bald widmen:
Weiße Papiermodelle drehen sich da im (Lebens-)Kreis. Von der säugenden zur
gestützten Mutter. Der idealtypische Lauf der Dinge als Spieluhr. Die Frage
bleibt: Was ist Familie?
28 Jan 2016
## AUTOREN
Barbara Wurm
## TAGS
Familie
Polen
Film
Bochum
Altenpflege
Alten- und Pflegeheime
Kino Polen
Sprache
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