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# taz.de -- Tag der Muttersprache: „Die Sprache des Herzens“
> In Berlin sprechen viele Menschen nicht nur Deutsch. Aber welche Sprache
> passt zu welcher Situation? Drei Protokolle zum Tag der Muttersprache am
> Sonntag.
Bild: Was würde wohl Tilda Swinton als ihre Muttersprache bezeichnen?
Xinggu Budian, geboren 1979 in Zhaojue, einer Stadt in der chinesischen
Provinz Sichuan, lebt seit 2010 in Berlin.
Meine Muttersprache ist Nosu, die Sprache der Yi. Das ist ein Volk, das
hauptsächlich in China lebt, aber auch in Vietnam, Kambodscha, Laos und
Thailand. Ein Sprachexperte hat herausgefunden, dass Nosu älter ist als
Mandarin – allerdings lebt dieser Mann in Hongkong. In China dürfte man so
etwas nicht laut aussprechen, denn für die Han-Chinesen ist Mandarin die
älteste Sprache.
Ich habe Nosu zu Hause gesprochen, in einem kleinen Dorf in der
chinesischen Provinz Sichuan. Als ich in die Schule kam, wurde dort nur
Mandarin gesprochen und ich habe nichts verstanden. Heute lernen die Kinder
in meiner Heimat Nosu in der Schule – aber eher so, wie die Kinder in
Deutschland Englisch lernen. Nosu ist eine Museumssprache. Ich schätze, sie
wird in 15 Jahren ausgestorben sein, denn alles, was mit Business zu tun
hat, erledigt man in meiner Heimat heute auf Mandarin. In dieser Beziehung
sind die Han-Chinesen viel geschickter geworden. Sie müssen gar keinen
Druck mehr machen. Die Leute passen sich freiwillig an.
Ich bin mit 23 Jahren nach Peking gegangen, mit 30 nach Berlin. In Peking
habe ich noch oft mit Freunden auf Nosu gesprochen. Seit ich in Berlin
lebe, spreche ich nur noch Nosu, wenn ich nach Hause telefoniere. In meiner
neuen Familie – also mit meiner Frau, die Berlinerin und Sinologin ist, und
unseren beiden Töchtern – sprechen wir Deutsch und Mandarin. Es wäre
seltsam, wenn ich mit den Kindern Nosu sprechen würde, da diese Sprache ja
in ihrem Umfeld gar nicht vorkommt. Es gibt ja auch keine Filme und keine
Bücher auf Nosu.
Mein Vater ist in der Gegend, in der ich aufgewachsen bin, ein berühmter
Mann, er ist eine Art Dorfrichter, der bei Konflikten gerufen wird, um zu
schlichten. Dafür muss er die alten Traditionen unseres Volkes kennen, das
heißt, er kann auch die Schriftzeichen der Yi lesen und schreiben – das
können bei uns sonst nur noch die Schamanen. Mein Vater beherrscht viele
Vokabeln, davon auch sehr alte, und kann sich sehr gewählt auf Nosu
ausdrücken. Mein ältester und mein zweitältester Bruder können das auch
noch. Ich als kleiner Bruder spreche Nosu wie eine Straßensprache, also
ganz einfach. Und trotzdem fühlt es sich vielleicht immer noch natürlicher
und entspannter an, wenn ich es spreche. Witze funktionieren auch besser
auf Nosu. Obwohl: Wenn ich über Gefühle spreche oder etwas besonders
Schönes oder meine Meinung sagen möchte, dann benutze ich eher Mandarin. Im
Nosu, das ich spreche, gibt es nicht so viele Wörter. Und das Nosu, das
mein Vater spricht, ist zu alt.
Giancarlo Massari, geboren 1969 in Bari, ist im Jahr 2000 nach Berlin
gekommen. Seit 2003 betreibt er mit seiner Frau Roxi Massari das Café Il
Buco di Heidi am Senefelderplatz.
Meine Muttersprache ist für mich die Sprache des Herzens. Nur mit der
Muttersprache können wir beschreiben, was wirklich mit uns passiert. Ich
wusste schon von Anfang an, dass meine Kinder, die in Deutschland geboren
sind, auch Deutsch lernen werden – aber dass sie natürlich auch unsere
Sprache beherrschen sollen. Wegen unseren Familien in Italien. Aber vor
allem, weil Kommunikation das Wichtigste ist: dass wir einander vollständig
verstehen können. Und das ist nur in der Muttersprache möglich.
Meine Kinder sprechen also mit uns Italienisch und draußen Deutsch. Sie
bewegen sich ganz natürlich in beiden Sprachen. Das ist ein Reichtum, den
meine Frau und ich nicht mehr erleben, weil wir so spät nach Deutschland
gekommen sind.
Und trotzdem ist nach 15 Jahren in Deutschland die deutsche Sprache auch
ein wichtiger Teil unseres Lebens geworden. Ich habe deutsche Freunde,
spreche auf dem Fußballplatz oder im Schwimmverein meiner Kinder mit
deutschen Eltern. Inzwischen träume ich manchmal auf Deutsch, verstehe
Witze, bringe Deutsche zum Lachen – allerdings ist der Weg da noch weit.
Über Gefühle spreche ich nach wie vor am liebsten auf Italienisch.
Italienisch ist eine Sprache, die man spielerisch gestalten kann. Das finde
ich super.
Ingela Aliwell, geboren 1981 in Birkerø d in Dänemark, lebt seit 2014 in
Berlin.
Meine Mutter ist drei Monate vor meiner Geburt aus der DDR ausgereist und
meinem Vater nach Dänemark gefolgt, wo ich aufgewachsen bin. Sie hat von
Anfang an nur auf Deutsch mit mir gesprochen. Mein Vater hat Dänisch mit
mir gesprochen, aber meine Eltern haben sich scheiden lassen, als ich fünf
war. Also ist Deutsch meine Muttersprache. In den ersten vier Jahren in der
dänischen Schule fühlte ich mich als Außenseiterin, aber danach ging ich
auf eine deutsche Schule und alles war gut. Bis heute kann ich besser
Deutsch lesen als Dänisch. Dafür kann ich besser Dänisch schreiben als
Deutsch.
Mein Dänisch ist allgemein besser, mein dänischer Wortschatz ist größer.
Auch sind meine dänischen Witze besser als meine deutschen, aber das liegt
wahrscheinlich auch daran, dass der dänische Humor schwärzer ist und nicht
so politisch korrekt wie der deutsche. Vielleicht kann man am ehesten
sagen, dass Deutsch meine Kindheitssprache ist und Dänisch meine
Erwachsenensprache. Als ich nach Berlin kam, hatte ich oft das Gefühl, dass
mein Deutsch sehr altmodisch ist, aber das ändert sich vielleicht ja noch.
Mein Mann ist Engländer, unsere Familiensprache ist vorwiegend Englisch,
aber wir sprechen auch Dänisch, denn er spricht fließend Dänisch. Als meine
Tochter auf die Welt kam, lebten wir noch in Dänemark und ich sprach mit
ihr Deutsch. 2014 zogen wir wegen der Arbeit nach Berlin, seither spreche
ich mit ihr Dänisch, weil sie sonst kein Dänisch mehr mitbekommen würde.
Aber sie spricht lieber Deutsch, was wahrscheinlich daran liegt, dass ich
auf Deutsch besser über Emotionales sprechen kann.
Ich sage immer noch, dass ich nach Hause fahre, wenn wir nach Dänemark
fahren, und das, obwohl ich Dänemark nicht wirklich vermisse. Auch die
dänische Sprache vermisse ich nicht, denn ich spreche am Arbeitsplatz viel
Dänisch. Ich will erst einmal nicht zurück. Das Land hat sich in eine
fürchterliche Richtung entwickelt, vor allem politisch. Es sind eher so
kleine Sachen, die fehlen: das Licht im Frühling zum Beispiel.
21 Feb 2016
## AUTOREN
Susanne Messmer
## TAGS
Sprache
Heimat
Interview
Familie
Schweiß
Sprache
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