# taz.de -- Ilse Aigner über Integration: „Niemand muss Tracht tragen“ | |
> Ilse Aigner ist trotz des CDU-CSU-Streits zuversichtlich: Angela Merkel | |
> sei eine große Politikerin. Ein Gespräch über Flüchtlinge, Leitkultur und | |
> AfD. | |
Bild: „Es geht uns nicht um eine bayerische, sondern um die deutsche Leitkult… | |
taz: Frau Aigner, Franz Josef Strauß hat die Devise ausgegeben, rechts der | |
CSU dürfe es keine demokratisch legitimierte Partei geben . . . | |
Ilse Aigner: Das gilt nach wie vor. | |
Einer Umfrage zufolge kommt die AfD in Bayern derzeit aber auf 8 Prozent. | |
Das nehme ich mit Sorge zur Kenntnis. Ich weiß aber auch, dass Umfragen | |
immer nur Momentaufnahmen sind. In der Politik können zwei Monate | |
Lichtjahre sein. Natürlich sind wir hier in der Pflicht. Wir haben momentan | |
in Bayern keine Wahlen. Also haben wir noch etwas Zeit, aber die müssen wir | |
dazu nutzen, die Probleme zu lösen. | |
Und zwar wie? | |
Wir müssen, was wir für richtig erachten, auch umsetzen. Deshalb kämpfen | |
wir ja so sehr dafür, dass beim Thema Flüchtlinge die richtigen Weichen | |
gestellt werden. Sprich: Wir brauchen eine Obergrenze, und wir müssen die | |
Landesgrenzen effektiv kontrollieren. Leider müssen wir dafür erst noch die | |
Koalitionspartner in Berlin auf unsere Seite bekommen. | |
Zurzeit hat man ohnehin den Eindruck, der ärgste politische Feind der CSU | |
sitzt im Kanzleramt. | |
Die Kategorien Freund/Feind sind da definitiv die falschen. Dennoch stimmt | |
es, dass CDU und CSU in der Flüchtlingsfrage derzeit unterschiedliche | |
Lösungsansätze haben. | |
Man spricht bereits von einer Regierungskrise. | |
Ich will nichts beschönigen: Es ist keine einfache Situation, aber auch | |
keine Regierungskrise. Bei allen anderen Themen arbeiten wir schließlich | |
gut zusammen. | |
Es geht ja nicht nur um das Verhältnis zwischen zwei Koalitionspartnern, | |
sondern um zwei Schwesterparteien. | |
Sicher, wir haben hier eine Dramatik, die auch an die Grundfesten der Union | |
geht. Überzeugungen werden aber nicht deshalb hinfällig, weil sie nicht von | |
allen geteilt werden. | |
Dass die Koalition bis zum Ende der Legislaturperiode hält, steht außer | |
Frage? | |
Es geht jetzt ausschließlich darum, das Problem zu lösen. Weder | |
Personalfragen noch Spekulationen über Koalitionen interessieren die | |
Menschen. | |
Woher nehmen Sie die Zuversicht, der Dissens zwischen CSU und Kanzlerin sei | |
lösbar? | |
Angela Merkel hat ja angekündigt, nach einigen weiteren Entscheidungen auf | |
europäischer Ebene eine Zwischenbilanz ziehen zu wollen. Das verstehe ich | |
schon so, dass sie dann auch ihre Position neu bewertet. Aber es muss sich | |
dann auch was ändern! | |
Was schätzen Sie an der Kanzlerin? | |
Ich halte sie für eine große Politikerin. Angela Merkel hat auf | |
europäischer Ebene unglaublich viel erreicht, was bis dahin als undenkbar | |
galt. In der Finanzkrise hat sie es mit ihrer Hartnäckigkeit geschafft, | |
dass etliche Länder doch noch auf die richtige Linie eingeschwenkt sind. | |
Vor der Finanzkrise hätte beispielsweise keiner eine Schuldenbremse auf | |
europäischer Ebene für möglich gehalten. | |
Hat sich Ihre Beurteilung der Kanzlerin seit September geändert? | |
Die Erfolgsbilanz der letzten zehn Jahre bleibt natürlich. Aber ich sehe | |
momentan eine andere Grundsituation als in der Finanzkrise, weil | |
Deutschland für einen Kompromiss heute nicht gebraucht wird. Für andere | |
Länder der EU ist der Status quo ja von Vorteil. Unsere | |
Verhandlungsposition ist also deutlich schlechter. | |
Sie waren selbst Mitglied in Merkels Kabinett, kennen sie also nicht nur | |
aus der Ferne. Was vermuten Sie, treibt die Kanzlerin an? | |
Ich denke, dass die Kanzlerin die Eindrücke des letzten Jahres sehr | |
getroffen haben. Denken Sie an das Bild von dem toten syrischen Jungen am | |
Strand oder an die erstickten Flüchtlinge in dem Lkw in Österreich! | |
Außerdem ist Angela Merkel eine überaus überzeugte Europäerin. Und sie ist | |
immer jemand, der sehr langfristig denkt. Wir sind uns auch völlig einig | |
darin, dass wir europäische und internationale Maßnahmen brauchen. | |
Allerdings wirken die nicht sofort. Und solange das nicht geschieht, | |
brauchen wir nationale Maßnahmen, die schnell umsetzbar sind. Julia | |
Klöckner hat bereits einen guten Vorschlag gemacht, der zeigt, wie beide | |
Positionen miteinander vereinbar sind. | |
Sie waren beim Thema Flüchtlinge bisher nicht ganz so laut wie manche Ihrer | |
Kabinettskollegen, etwa Markus Söder. Womit Sie aber Aufsehen erregt haben, | |
das war das von Ihnen geforderte Verbot der Vollverschleierung – auch für | |
Touristinnen. | |
Und dazu stehe ich noch immer. Die Vollverschleierung ist ein | |
patriarchalisches Instrument, mit dem Frauen klein gehalten werden. Wir | |
leben in einem Land, in dem Freiheit und Offenheit einen hohen Stellenwert | |
haben, und dazu gehört, dass ich jemandem ins Gesicht sehen kann. Wer in | |
dieses Land kommt, muss das akzeptieren. Ich bin letztes Jahr in den Iran | |
gereist und habe auch akzeptiert, dass ich dort einen Schleier tragen | |
musste. | |
Bei der Wirtschaft, der Sie qua Amt besonders nahestehen, haben Sie aber | |
nur Kopfschütteln geerntet. Der Münchner Einzelhandel etwa freut sich jeden | |
Sommer über die Shoppingtouren vollverschleierter Kundinnen aus | |
Saudi-Arabien und Co. | |
Ich verstehe natürlich die Beweggründe der Händler, aber ich habe als | |
Politikerin eine Gesamtverantwortung für unser Land, und da gibt es neben | |
ökonomischen auch andere Interessen, die für uns wichtig sind. | |
Muss ich künftig die Polizei rufen, wenn ich eine verschleierte Frau in der | |
Münchner Fußgängerzone sehe? | |
Natürlich werden wir über die genaue Umsetzung noch reden müssen. Das ist | |
jetzt erst einmal eine rechtliche Frage, die gerade in mehreren Ministerien | |
geprüft wird. Aber ich bin zuversichtlich, schließlich hat der Europäische | |
Gerichtshof das Verbot der Vollverschleierung in Frankreich bestätigt. | |
Die CSU entdeckt gerade den Begriff der „Leitkultur“ wieder . . . | |
Ja, aber keine Sorge: Wir werden niemanden zwingen, Tracht zu tragen. | |
Leitkultur heißt, dass wir uns unserer Werte vergewissern und unsere | |
Grundwerte verteidigen. Dazu gehören etwa die Gleichberechtigung von Mann | |
und Frau, die Religionsfreiheit, die Pressefreiheit und die | |
Meinungsfreiheit. Und nicht zuletzt die Rechtsstaatlichkeit. | |
All das ist in Deutschland verfassungsmäßig garantiert. Trotzdem wollen Sie | |
die Leitkultur in der bayerischen Verfassung verankern. Warum? | |
Weil das Bekenntnis dazu ein wichtiger Punkt ist, den wir auch von Menschen | |
einfordern, die neu in unser Land kommen. Wenn wir Integration wollen, dann | |
muss Integration auch eine Richtung haben; und es ist gut, diese | |
gesellschaftliche Grundlage in die Präambel aufzunehmen. | |
Was haben denn innerdeutsche Migranten zu vergegenwärtigen, sobald sie das | |
Hoheitsgebiet der bayerischen Verfassung betreten? | |
Man kann natürlich alles ins Lächerliche ziehen. Es geht uns nicht um eine | |
bayerische, sondern um die deutsche Leitkultur. | |
Aber warum wollen Sie dann nicht das Grundgesetz ändern, sondern die | |
bayerische Verfassung? | |
Es ist immer gut, wenn man dort voranschreitet, wo man auch etwas | |
entscheiden kann, nämlich im eigenen Land. | |
Deutschland ist aber auch Ihr Land, oder? | |
Selbstverständlich. Aber deshalb können wir doch trotzdem in Bayern | |
anfangen. Ich bin schließlich im Landtag und nicht mehr im Bundestag. | |
Müssen wir Zuwanderung nicht grundsätzlich auch als Chance begreifen? | |
Doch, natürlich. Und Bayern ist das beste Beispiel dafür, wie das geht. Zu | |
uns sind in den letzten 25 Jahren 2 Millionen Menschen gekommen – aus | |
Deutschland, aus Europa, aus der ganzen Welt. Wir haben in München einen | |
höheren Migrantenanteil als in Berlin. Wir haben die neuen Mitbürger | |
willkommen geheißen und als Bereicherung gesehen, aber immer darauf | |
geachtet, dass keine Parallelgesellschaften entstehen. Und dass es keine | |
No-go-Areas gibt, in denen wir nicht mehr für Recht und Ordnung sorgen | |
können. | |
Zum Schluss noch eine leichte Frage: Wer wird eigentlich 2018 | |
Ministerpräsident? | |
Das wird 2018 letztlich das bayerische Volk entscheiden. | |
Die CSU könnte dem bayerischen Volk da mit einem Personalvorschlag die | |
Entscheidung etwas leichter machen. | |
Das könnte sein – und wird auch so sein. Damit können wir uns aber noch | |
viel Zeit lassen, weil wir einen mehr als erfolgreichen Ministerpräsidenten | |
mit enormen Zustimmungsraten haben. | |
Dieser Ministerpräsident hat aber sehr früh bekanntgegeben, wann für ihn | |
Schluss ist. Da ist es doch klar, dass die Leute sich Gedanken darüber | |
machen, was nach ihm kommt. | |
Die meisten Wahlentscheidungen fallen 14 Tage vor der Wahl. In einem halben | |
Jahr passiert in der Politik so eminent viel, und wenn ich Sie heute fragen | |
würde, was Sie vor einem Jahr für möglich gehalten haben, da könnten Sie | |
sich schon gar nicht mehr erinnern. | |
Doch: Ich hielt es für möglich, dass Sie die nächste Ministerpräsidentin | |
werden. Damals wurden Sie noch als heiße Anwärterin gehandelt – inzwischen | |
ist nur noch von Markus Söder die Rede. Der Mann ist omnipräsent in den | |
Medien, gibt zu allem seinen Kommentar ab . . . | |
Das steht ihm frei, ändert aber nichts daran, dass aktuell nichts zu | |
entscheiden ist. Ob Sie’s mir glauben oder nicht: Ich bin da ganz | |
entspannt. | |
27 Jan 2016 | |
## AUTOREN | |
Dominik Baur | |
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