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# taz.de -- Karneval und sexuelle Belästigung: Sions entschlossene Töchter
> Sie feiern und verkleiden sich gern: Karnevalistinnen. Und sie wollen
> sich die jecken Tage nicht von Übergriffen vermiesen lassen.
Bild: Letztes Jahr: Judith Hasselmann (r.) mit ihren Freundinnen Silvia Platter…
Köln taz | Kaffee und Kölsch stehen für Anprobe und Nähsession bereit. Drei
Frauen sitzen um einen Küchentisch. Neben der Nähmaschine liegen bunte
Perücken, Stoffe und Gewänder ausgebreitet – ein mit den Jahren gewachsener
Kostümfundus, aus dem Judith Hasselmann, Tina Phleps und Iris Stephan
schöpfen können. Die Freundinnen erfinden sich im Karneval jedes Jahr neu:
Als Kassiererinnen, Sekretärinnen oder als Putzkolonne ziehen sie mit einer
festen Frauenclique in den Straßenkarneval. Schön sind sie nie, aber
schräg. „Dieses Jahr gehen wir als Sions Töchter!“, verrät Tina Phleps
kichernd.
Die gelernte Kostümbildnerin schnallt einen knallroten Gürtel um ihre
Hüfte, ihre Zweizimmerwohnung in der Kölner Südstadt wird in der
Karnevalsvorzeit stets zum Hauptquartier der Karnevalistinnen. Hasselmann
schlüpft in ein gelbes Gewand und streift sich eine Lockenperücke über
ihren Kurzhaarschnitt. „Erleuchtung durch Kölsch!“, ruft Iris Stephan über
den Küchentisch und hebt ihr Kölschglas. Das Siegel der Sion-Brauerei
baumelt an einer Kette um ihren Hals.
Die Freundinnen wollen als Kölsch-Sekte à la Hare Krishna durch die Straßen
ziehen. „Sions Töchter“ werden auch dieses Jahr tanzen, feiern und keine
Armlänge Abstand halten können, wie es die Kölner Oberbürgermeisterin nach
den massiven sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht vorschlug. „Das
geht gar nicht“, sagt Hasselmann und lacht laut. Das Problem liege doch bei
den Männern. Sie und ihre Freundinnen haben, was sexuelle Belästigung
angeht, andere Strategien entwickelt.
„Es kann immer zu kritischen Situationen kommen“, sagt Hasselmann. Die
53-Jährige ist nicht nur begeisterte Karnevalistin sondern sitzt auch im
Präsidium des Bundesfrauenrates der Grünen. Jedes Jahr werden im Kölner
Karneval Frauen von Männern angegriffen, allein im letzten Jahr gab es
sechs Anzeigen wegen Vergewaltigung. Im dichten Gedränge hilft auch kein
Pfefferspray. Hasselmann und ihre Freundinnen bleiben deswegen als Gruppe
immer zusammen. Wer nach Hause geht, meldet sich ab. Unterwegs verständigen
sie sich mit Blicken: „Wenn komische Typen kommen, kriegen die’ne
Breitseite.“
Das hilft nicht immer. Einmal waren sie als Prinzessinnen unterwegs – mit
prächtig schaumstoffgepolsterten Hintern und Brüsten. Damals drängten sich
ein paar Typen zwischen sie, fingen an zu fummeln, versuchten die Gruppe zu
sprengen. Den Frauen gelang es nur mit Mühe, die Männer wegzudrängen. „Wenn
eine sagt: ‚Das will ich nicht‘, dann ist Schluss mit lustig. Ein Nein ist
ein Nein“, sagt Hasselmann.
Die Clique meidet bestimmte Orte. Dazu gehört die Altstadt. Nicht erst seit
Silvester ist die Gegend zwischen Dom und Rhein für viele Frauen
No-go-Area. Für die Einheimischen findet dort seit Jahren eine
Fremdveranstaltung statt: Reisebusse und Züge spucken zu Tausenden
Touristen aus. Sie kommen zum Trinken, Tanzen, Feiern, gehen auf
Partnersuche. Gewolltes Über-die-Stränge-Schlagen. Verschmelzen mit der
Menge. Das Unterhaken beim Schunkeln, das „Bützen“- Küsschen auf die Wange
– gehört dazu und kann schnell als sexuelle Aufforderung missverstanden
werden.
Die Polizei warnt Frauen seit Jahren vor K.-o.-Tropfen. Ein Grund, warum
einige Altstadtlokale die Taschen ihrer Gäste inzwischen penibel nach
Flüssigkeiten absuchen. Das „Früh“ am Dom, eines der bekanntesten
Brauhäuser der Stadt, ist vergangenes Jahr aus der Party ausgestiegen.
Gäste dürfen nur noch zum Essen hier herein – und wer grölt, fliegt raus.
## Gelebtes Brauchtum
Dabei ist der Karneval gelebtes Brauchtum, Lebenselixier vieler Kölner und
Kölnerinnen. Ab dem 11. 11., 11.11 Uhr, wenn die Karnevalssaison offiziell
eröffnet wird, jagt eine Vereinssitzung die andere. Im Hotel Pullman
Cologne, in Sichtweite des Doms, haben an einem Abend im Januar die
„Löstigen Paulaner“ zur Mädchensitzung geladen. Lange Tische ziehen sich
durch den Raum, in dem tausend Frauen sitzen und schunkeln, einige sind auf
ihre Stühle gestiegen. Die „Paulinchen“ tragen aufwendige Gruppenkostüme,
nicht von der Stange, sondern selbst entworfen und geschneidert. Hüte,
Handtaschen, Maniküre – alles ist aufeinander abgestimmt.
„Sions Töchter“ sind an dem Abend nicht dabei. Eine Gruppe Bonbons tanzt
Polonaise, rosarote Pompons wippen um die Hüfte der Frauen, dahinter
tippelt eine Stewardessen-Crew, Namensschilder am Revers. Auf der Bühne
beschwört die Band „Cat Ballou“ das kölsche Heimatgefühl. Frauen aus drei
Generationen, von Mitte zwanzig bis Mitte siebzig, singen inbrünstig mit.
Reine Frauensitzungen sind im traditionell von Männern geprägten Karneval
in der Nachkriegszeit entstanden – als Angebot für Kriegswitwen, die damals
kaum eine Möglichkeit zum Alleine-Ausgehen und -Feiern hatten. Heute sind
die mehrstündigen Sitzungen mit Büttenreden, Showeinlagen und
Stand-up-Comedians aus der Szene kaum noch wegzudenken.
Verena Dahlhausen hat die begehrten Tischkarten dieses Jahr von ihrer
Mutter übernommen. Zur karierten Weste mit Karnevalsorden am Revers trägt
sie die rote Paulaner-Kapp. Dahlmanns schwerkranker Mutter war es ein
besonderes Anliegen, dass die Tochter an ihrer Stelle feiern geht. Denn
gefeiert wurde immer – Verena Dahlhausen stammt aus einer Kölner
Unternehmerfamilie, da gehört es zum guten Ton und Geschäft, im
Karnevalsverein zu sein.
## „Geht’s noch?“
Die Silvesterereignisse sind auch bei der Mädchensitzung Gesprächsthema.
„Wir haben ein freundliches Gesicht gemacht, aber das erwarten wir auch von
den anderen“, singt Bernd Stelter zur Gitarre. Tusch, Applaus. Marco
Metzger erinnert sich an die Fußball-WM, da lagen sich alle in den Armen.
Und jetzt: Eine Armlänge Abstand, geht’s noch? Zweimal Tusch, lautstarker
Applaus. Verena Dahlhausen und die sie begleitende Freundinnen machen die
Ereignisse der Silvesternacht „fassungslos“, doch es bleibt dabei: „Mädc…
mer bleibe gut drauf.“
Verena Dahlhausen musste ihrem 13-jährigen Sohn versprechen, ein Taxi nach
Hause zu nehmen. Karneval ausgehen will sie wie jedes Jahr. „Ich habe keine
Angst. Ich war auch auf dem Weihnachtsmarkt, obwohl viele nach den
Anschlägen von Paris gesagt haben, da geh ich nicht mehr hin.“ Bis in die
frühen Morgenstunden feiert sie allerdings nicht mehr, da sei zu viel
Alkohol im Spiel. „Manche packen dich an der Hand, greifen dir um die
Hüfte. Das ist ekelhaft.“ Mit Herkunft oder Hautfarbe habe das nichts zu
tun. Flüchtlinge dürfen nicht unter Generalverdacht gestellt werden, das
ist Dahlhausen wichtig.
Sind Mädchensitzungen also eine Art Schutzraum? Sie sind ein Zugeständnis
an die Frauen, in einer von Männern dominierten Tradition. Das Dreigestirn
– Jungfrau, Bauer, Prinz – ist männlich, und auch in den Korps sind bis auf
das Tanzmariechen keine Frauen zugelassen. Im Vorstand des Festkomitees
sitzen nur Männer. Frauenfeindliche Witze machen in jeder Saison die Runde.
## Schon letztes Jahr eingeknickt
Das Festkomitee Kölner Karneval managt den Rosenmontagszug, den größten
Karnevalsumzug der Republik. Dort will sich niemand zu den
Silvestergeschehnissen und möglichen Konsequenzen äußern. „Mit Vertrauen
auf die Sicherheitskräfte bereiten wir uns vor wie in jedem Jahr“, heißt es
lapidar. NRW-Innenminister Ralf Jäger hat 2.400 zusätzliche Einsatzkräfte
und Polizisten angekündigt, darunter viele noch in Ausbildung.
Die Grüne Hasselmann fragt sich, ob und wie der Kölner Rosenmontagszug zu
den Silvesterübergriffen Stellung beziehen wird. Vergangenes Jahr wurde ein
„Charlie-Hebdo“-Wagen zurückgezogen, er zeigte einen Islamisten mit
Sprengstoffgürtel und Schusswaffe, in deren Mündung ein Narr einen
Bleistift rammt. Dass die Angst vor Anschlägen über Narrenfreiheit siegte,
das regt die Lokalpolitikerin noch immer auf. Karneval ohne Politik ist nun
mal kein Karneval, sagt sie.
Am nächsten Tag legt Hasselmann auf dem Heimweg einen Stopp am Hauptbahnhof
ein. Vergeblich sucht sie auf der Domtreppe Blumentöpfe und Zettel, die
nach der Silvesternacht anmahnten: „So etwas darf sich nie wiederholen!“
Alles weggeräumt. In der Karnevalszeit wird der Dom aus Schutz vor
Wildpinklern eingezäunt sein. Der angrenzende Bahnhof und der Vorplatz sind
jetzt voller Polizisten.
Zweimal haben Hasselmann und ihre Freundinnen in den vergangenen Wochen
gegen Sexismus und Gewalt gegen Frauen protestiert. Auch dafür hatten sie
ein Kostüm: die Lippen dick geschminkt, auf dem Kopf eine Perücke, über der
Winterjacke einen knallroten BH. Darauf stand in großen Buchstaben: „Ni
putes ni soumises”, das heißt so viel wie „Weder Huren noch unterwürfig�…
Der Slogan stammt von französischen Feministinnen und vor allem
Migrantinnen, die seit über einem Jahrzehnt gegen Unterdrückung und
Sexismus in den Pariser Vorstädten kämpfen.
Sie erinnert sich an einen besonderen Moment bei den Protesten Anfang
Januar: Zwischen Trillerpfeifen und Sprechchören stimmten die
Demonstrantinnen plötzlich den Karnevalsschlager von Marita Köllner an:
„Denn mir sin kölsche Mädcher / Hann Spetzebötzjer an / Mir lossen uns nit
dran fummele / Mir lossen keiner dran.“
Hasselmann lacht, wegen der Spitzenhöschen. Und weil sie, die geborene
Düsseldorferin, die Gelassenheit der Kölner mag. „Sions Tochter“ wird sich
den Spaß nicht vermiesen lassen. Eine Freundin, die nie jeck war, will
dieses Jahr mit Hasselmann feiern – nur um ein Zeichen zu setzen. Jetzt
erst recht.
4 Feb 2016
## AUTOREN
Claudia Hennen
## TAGS
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