# taz.de -- Buch von Victor Sebestyen: Als der Kalte Krieg begann | |
> Wohlstand statt Vergeltung und Reparationen: Victor Sebestyens | |
> eindrucksvoll erzählte Chronik „1946. Das Jahr, in dem die Welt neu | |
> entstand“. | |
Bild: Jüdische Flüchtlinge 1946 im „Düppel-Zentrum“, einem Lager für �… | |
Im Jahre 1946 stand die Welt vor einer umfassenden Neuordnung. Die | |
faschistischen Reiche von Deutschen und Japanern waren in den | |
verlustreichen Kämpfen des Zweiten Weltkriegs niedergerungen worden. Europa | |
lag ab Frankreich ostwärts in Trümmern, Millionen Menschen hungerten, | |
galten als Displaced Persons, darunter auch Zehntausende dem Holocaust | |
entkommene europäische Juden. | |
In Reaktion auf die Verbrechen der deutschen Truppen und deren | |
Vernichtungskrieg im Osten fanden nach 1945 umfassende Grenzverschiebungen | |
und ethnische Säuberungen statt. Davon waren auch Millionen Deutsche | |
betroffen, besonders in Gebieten des heutigen Polens, damaliger | |
Tschechoslowakei und Sowjetunion. Die von den Nazis überfallenen Nationen | |
hatten Millionen Opfer zu beklagen. Insbesondere die Truppen der Roten | |
Armee rächten sich dafür an der deutschen Zivilbevölkerung. | |
Der britische Journalist und Historiker Victor Sebestyen beschreibt auch | |
dies schonungslos in seinem dem Jahr 1946 gewidmeten Werk. Sebestyen, | |
geboren 1956 in Budapest, floh als Kind mit seinen Eltern aus dem | |
kommunistischen Ungarn. Er verfasste bereits Bücher über den Volksaufstand | |
in Ungarn 1956 und den Zusammenbruch des Sowjetimperiums 1989. In seinem | |
jetzigen Buch „1946. Das Jahr, in dem die Welt neu entstand“ skizziert er | |
nun anschaulich die Gründe für den Kalten Krieg und die Teilung Europas | |
nach 1945. | |
Als Journalist arbeitete er für Times und New York Times und ist | |
Mitarbeiter des US-Nachrichtenmagazins Newsweek. Sebestyen versteht es | |
hervorragend, Geschichte in Ausschnitten pointiert und reportagehaft zu | |
erzählen. Vor allem gelingt es ihm dabei, teils schockierende, teils | |
unterhaltsame Episoden in eine analytische Gesamtdarstellung zu fügen. | |
## Credo Stalins | |
Ohne antikommunistisch zu wirken, hat das Kind von Ungarnflüchtlingen keine | |
Scheu davor, die historischen Resultate der KP-Herrschaft beim Namen zu | |
nennen. Das Fehlverhalten der sowjetischen Truppen – Vergewaltigungen, | |
Misshandlungen, Plünderungen – nach der Befreiung vom Faschismus, so | |
Sebestyen, führte zu einer frühen Ablehnung des Besatzungsregimes in | |
Ostdeutschland. An zwei Stellen zitiert der Autor das unmissverständliche | |
Credo Stalins: „Wer ein Gebiet besetzt, erlegt ihm auch sein eigenes | |
gesellschaftliches System auf.“ | |
Für Sebestyen so weit nachvollziehbar. Der Fehler lag demnach nicht in | |
dieser Logik, sondern in Stalins System. Deutlich betont der Autor, dass | |
Stalins Überlegungen für eine Nachkriegsordnung ziemlich begrenzt waren. | |
Vieles entwickelte der „rote Zar“ aus der Dynamik des Kriegsverlaufs. | |
Stalin beanspruchte gemäß seiner Machtlogik die von der Roten Armee einmal | |
befreiten Gebiete für sich. Er unterwarf Osteuropa bis an die Elbe, da die | |
westlichen Alliierten verspätet vorrückten, die ihre eigenen Soldaten | |
schonen wollten. | |
Aber es war nicht Stalins ursprüngliches Ziel, soweit in die Mitte Europas | |
vorzustoßen. Einmal in Berlin angelangt, blieben die Sowjets natürlich. Und | |
demontierten alles was ökonomisch nutzbar war. Der Wunsch nach Reparationen | |
und Vergeltung schien verständlich, doch für das Gesamtziel schädlich. So | |
ließ sich die Bevölkerung des künftigen Bruderstaates DDR kaum für die | |
Sowjets gewinnen. Im Unterschied dazu setzten sich im Westen, wie Sebestyen | |
beschreibt, rasch die Gemäßigten durch. | |
## „Eiserner Vorhang“ | |
Deutsche und Japaner würden bei aufziehendem Kalten Krieg vielleicht bald | |
wieder gebraucht. In seinen berühmt gewordenen Reden in Fulton und Zürich | |
sprach Britanniens Staatsmann Winston Churchill 1946 bereits vom „Eisernen | |
Vorhang“ quer durch Europa. Viele Westdeutsche und Japaner profitierten vom | |
Ost-West-Gegensatz. In den westlichen Besatzungszonen gab es bald | |
Nylonstrümpfe gegen Liebe, statt Zwangshandlungen. Vor allem aber stockte | |
die Entnazifizierung. | |
Ganze 12 Nazi-Massenmörder wurden im ersten Nürnberger Prozess 1945/46 zum | |
Tode verurteilt, 24 Personen waren als Hauptkriegsverbrecher angeklagt. | |
Kaum anders in Japan. Sebestyen stellt nicht ohne Humor dar, wie die | |
US-Amerikaner den faschistischen Kaiser davon überzeugten, besser den Weg | |
in die Demokratie mitzubeschreiten, denn als Völkermörder am Galgen zu | |
enden. 1946 ging manches sehr schnell, Opportunisten sind oft gnadenlose | |
Realisten. | |
Aus den Heroen von gestern wurden in Japan und Deutschland die Versager von | |
heute, in Gestalt der geschlagenen, heimkehrenden Soldatenmänner. Die Lucky | |
Strikes hatten ja andere. 1946/47 hungerte man auch in Frankreich und in | |
vom Krieg ausgezehrten Großbritannien. Es war nicht leicht, die | |
Bevölkerungen von einer milden Politik gegenüber Deutschland zu überzeugen. | |
Sebestyen beschreibt jedoch Krisen, die den Prozess beschleunigten. 1946 | |
stand man wegen der sowjetischen Ansprüche in Iran und der Türkei kurz vor | |
Ausbruch eines heißen Krieges. In China marschierte Mao. | |
## Einfache Arbeiternazis | |
In Ostdeutschland versuchten die Sowjets, Sebestyen zitiert den KP-Führer | |
Walter Ulbricht, „demokratisch auszusehen“. Das schloss die Integration der | |
„einfachen Arbeiternazis“ mit ein. Die Entnazifizierung, so Sebestyen, | |
stockte nicht nur im Westen. Mit unfehlbarer Wissenschaftlichkeit | |
lokalisierten die Kommunisten den deutschen Nationalsozialismus zudem als | |
ein Problem des westlichen Kapitalismus. Und der lag außerhalb ihres | |
Verantwortungsbereichs. | |
Für Juden, die die Schoah überlebten, war die Lage 1946 in Europa weiterhin | |
bedrohlich. Sebestyen zitiert auch den latenten Antisemitismus westlicher | |
Politiker. Selbst die USA hatten von 1933 bis 1945 laut Sebestyen nur | |
365.000 Menschen mit jüdischem Hintergrund aufgenommen. Besonders schlecht | |
stellte sich die Lage für überlebende Juden in Deutschland und ganz | |
Osteuropa dar. Der jüdische Besitz war geraubt, soweit ihre Wohnungen noch | |
existierten, hausten dort zumeist andere, die sich an die früheren Bewohner | |
nicht erinnern mochten. | |
1946 ereigneten sich abscheuliche Pogrome wie im polnischen Kielce. Sie | |
wurden, wie Sebestyen schildert, von KP und katholischem Klerus weitgehend | |
gedeckt – nach Auschwitz und Befreiung. Sebestyen folgert, dass aus | |
erfahrenem Leid nicht unbedingt Mitgefühl oder moralische Integrität | |
resultiere. Und auch die zionistische Bewegung geriet 1946 in einen | |
blutigen Gegensatz zum zerfallenden britischen Empire in Palästina. | |
Für diejenigen, die Widersprüchlichkeiten aushalten, ist Sebestyens Buch | |
ein aufschlussreiches Werk. Wer weiß heute schon von Auseinandersetzungen | |
bei der Staatsgründung Israels oder beim sich 1946 abzeichnenden Zerfall | |
des britischen Empires in Indien, samt bis heute andauernden | |
indisch-pakistanischen Gegensatz? Wer Sebestyen liest, wird viele der | |
heutigen Weltkonflikte besser verstehen. Und auch mit Schlagworten wie | |
Imperialismus und Kolonialismus vorsichtiger hantieren. | |
17 Jan 2016 | |
## AUTOREN | |
Andreas Fanizadeh | |
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