# taz.de -- Flüchtlingscamp in Griechenland: Der große Graben | |
> Das Camp in Idomeni an der mazedonisch-griechischen Grenze wird geräumt. | |
> Zuletzt saßen dort Tausende fest – in Dreck und Kälte. | |
Bild: Schlecht versorgt: Wartende Flüchtlinge in Idomeni | |
Idomeni taz | Yves Muanzas Haus ist weggeflogen. Schon wieder. Mit zwei | |
schnellen Schritten hechtet der stämmige Kongolese ihm hinterher, greift | |
mit beiden Händen die Zeltplane, zieht sie zurück auf die Bahngleise und | |
beginnt mit dem Wiederaufbau. | |
In Dimitris Stoidais Haus wurde eingebrochen. Kürzlich erst. Mit spitzen | |
Fingern hebt der griechische Farmer das Beweisstück in die Höhe: Eine | |
arabische Zeitung. Gefunden neben den Überbleibseln eines Lagerfeuers, an | |
dem sich die Einbrecher im Obergeschoss seines Kornspeichers offenbar die | |
Hände gewärmt haben. | |
Stoidais und Muanza sind Nachbarn. Seit knapp zwei Wochen schon. Weil | |
Mazedonien, das Land jenseits der Grenze, die Schotten dichtgemacht hat. | |
Der kleine Balkanstaat lässt nur noch Menschen über die Grenze, die aus | |
Syrien, dem Irak oder Afghanistan stammen. Deshalb wohnt Yves Muanza jetzt | |
hier, zusammen mit etwa 1.500 anderen, die aus dem Iran, Somalia oder | |
Marokko hergekommen sind. Die Menschen haben ihre Zelte auf den Gleisen | |
aufgeschlagen, auf denen früher die Bahn zwischen Mazedonien und | |
Griechenland fuhr. Sie warten darauf, dass die Grenze wieder geöffnet wird. | |
Und wenn nicht? „Dann bleibe ich hier“, sagt Muanza. „Notfalls bis ich | |
sterbe.“ | |
Um Muanza herum stehen dicht gedrängt Hunderte Zelte, auf dem Boden liegen | |
leere Flaschen und Zigarettenkippen, am Rande des Platzes bieten | |
Essensstände Hotdogs und Kaffee an. Die Stimmung in dem Flüchtlingscamp | |
ähnelt ein bisschen einem Festival. Nur, dass es viel zu kalt für ein | |
solches ist: Sechs Grad zeigt das Thermometer. In der Nacht wird es noch | |
kälter werden. „Wäre das nicht ironisch, wenn wir den ganzen Weg | |
hierhergelaufen wären, um dann vor der Grenze zu erfrieren?“, fragt ein | |
junger Mann, der ein paar Meter entfernt von Muanza seine Hände an einem | |
Lagerfeuer wärmt. „Ich fände das ironisch.“ Er lacht. | |
## „Islamoaffen“, sagt er ziemlich oft | |
„Affen sind das!“, ruft Dimitris Stoidais und trommelt mit den Fingern auf | |
sein Lenkrad. „Islamoaffen!“ Jedes Mal, wenn er mit seinem Pick-up an einer | |
Gruppe Menschen vorbeifährt, wiederholt er es, mal aufgeregt, mal | |
frustriert: „Islamoaffen.“ Er sagt es ziemlich oft, denn es sind ganz schön | |
viele Leute unterwegs auf den Straßen von Idomeni. | |
Zwischen dem Flüchtlingscamp und dem Dorfplatz liegen nur etwa 500 Meter, | |
der Weg dorthin ist gesäumt von kleinen weißen Häuschen und Olivenbäumen, | |
ein klassisch griechisches Idyll. Alle paar Meter läuft eine Gruppe von | |
Flüchtenden vorbei, manche sitzen auf den kleinen Backsteinmauern in der | |
Sonne, andere schießen Fotos mit der griechischen Statue auf dem Dorfplatz. | |
„Am Anfang habe ich noch aufgemacht, wenn sie geklingelt haben“, sagt | |
Stoidais. „Habe den Frauen Wasser gegeben oder Milch für ihre Kinder. Aber | |
es hat einfach nicht aufgehört.“ | |
Stoidais parkt sein Auto in einer Einfahrt und öffnet das Tor zu seinem | |
Kornspeicher, es ist mit einer rostigen Eisenkette gesichert. Im | |
Obergeschoss ist es unordentlich und stickig, im Gang lehnt eine | |
ausgehängte Tür, Dreckspritzer sind darauf zu sehen. „Die haben sie | |
aufgebrochen“, sagt Stoidais. Gefehlt habe nichts nach dem Einbruch, nein, | |
aber ein Lagerfeuer hätten sie gemacht. | |
## „Nein! Nein! Und nochmals Nein“ | |
Stoidais hat die Asche immer noch nicht weggeräumt, sie ist ein | |
Beweismittel für ihn. Er deutet auf das Häufchen Asche auf den Fliesen und | |
verzieht sein Gesicht. „Warum machen die so was?“, fragt er. Wenn heute | |
noch mal jemand bei ihm klingeln und um Hilfe bitten würde, Stoidais | |
wüsste, was er sagen würde: „Nein!“ Stoidais stampft auf den Boden, seine | |
Hände fahren hektisch durch die Luft. „Nein! Nein! Und nochmals Nein.“ | |
Der 15-jährige Samuil kann sich gut vorstellen, warum Menschen in Stoidais | |
Kornspeicher eingebrochen sind. Samuil steht ein paar Meter entfernt von | |
dem Haus mit seinen Freunden in der Sonne und plaudert. Samuil ist | |
übermüdet. Er hat die ganze Nacht nicht geschlafen. „Ich bin gestern erst | |
hier angekommen“, erzählt er. „Da gab es keine Zelte mehr.“ Also habe er | |
die Nacht draußen verbracht. Sei permanent hin und hergelaufen, um sich | |
aufzuwärmen. „Für heute Nacht haben wir immer noch kein Zelt gefunden“, | |
sagt er. „Ich weiß nicht, wie viele Tage ich in dieser Kälte aushalten | |
kann.“ | |
In dem Camp fehlt es nicht nur an Zelten: Das Flüchtlingslager war nie auf | |
Dauer ausgelegt. Es gibt keine Duschen und nur einen einzigen – vollkommen | |
überfüllten – Mülleimer. Für 1.500 Menschen. In den kleinen Zweimannzelten | |
schlafen bis zu 10 Personen, wenn es regnet, fließt das Wasser in die Zelte | |
und alles wird nass. Tausende frierende Menschen eingepfercht auf engstem | |
Raum ohne Duschen – es ist nur eine Frage der Zeit, bis hier Krankheiten | |
ausbrechen. | |
„Das Camp hat unser Dorf gespalten“, sagt Adam Grammatikos. „Es gibt jetzt | |
zwei Gruppen: Die einen helfen den Flüchtenden – und die anderen hassen | |
sie.“ Grammatikos gehört zur ersten Gruppe. Er verschenkt Essen an jene, | |
die es sich nicht leisten können, und lässt Frauen und Kinder bei sich | |
duschen. Er arbeitet in dem Duty-Free-Shop an der Bahnstation von Idomeni, | |
einem von zwei Läden des Dorfes. Der Shop ist einer der wenigen Orte nahe | |
dem Camp, in dem es halbwegs warm ist und der deswegen seit Wochen | |
überfüllt ist. Drinnen hängen Rauchschwaden in der Luft, Dutzende Menschen | |
drängen sich um die Heizungen, ein Stimmengewirr aus Urdu, Französisch und | |
Persisch hängt in der Luft. „Die Menschen, die die Flüchtlinge hassen“, | |
sagt er, „die sprechen auch mit uns nicht mehr.“ | |
Grammatikos ist vor zwei Jahren zum Jobben nach Idomeni gekommen, | |
eigentlich studiert er Jura in Thessaloniki. „Ich finde, dass der Ort von | |
den vielen Menschen profitiert“, sagt er. „Es gibt jetzt viel mehr Arbeit | |
hier, jeder hat einen Job, das ist seit der Krise ungewöhnlich für | |
Griechenland.“ | |
## „Das Warten macht die Menschen hier verrückt“ | |
Aber in den Wochen, seit die Grenze geschlossen wurde, sei die Situation | |
schwieriger geworden. „Das Warten macht die Menschen hier verrückt“, sagt | |
Grammatikos. „Abends fangen neuerdings Leute an, Alkohol zu trinken. Dann | |
werden sie aggressiv und es gibt Streit.“ | |
In den letzten Tagen ist es in dem Camp immer wieder zu Ausschreitungen | |
gekommen. Verzweifelte Flüchtende versuchen, die Polizeiabsperrungen an der | |
Grenze zu durchbrechen, die Polizei lässt sie nicht durch, es kommt zu | |
Tumulten. | |
Das große Problem, findet Grammatikos, seien letztlich weder die | |
rassistischen Anwohner, noch die frustrierten Flüchtenden. „Es ist die | |
geschlossene Grenze“, sagt er. „Wenn sie die nur wieder aufmachen würden, | |
die Situation hier wäre nur noch halb so schlimm.“ | |
Das UNHCR versucht inzwischen, die Leute mit Bussen nach Athen zu schaffen. | |
Doch viele Menschen weigern sich zu gehen. Sie haben Angst, es dann niemals | |
über die Grenze schaffen zu können. Und noch immer kommen täglich neue | |
Leute in Idomeni an. | |
9 Dec 2015 | |
## AUTOREN | |
Laura Meschede | |
## TAGS | |
Flüchtlinge | |
Griechenland | |
Mazedonien | |
Schwerpunkt Flucht | |
Flüchtlingslager | |
Grenze | |
Schwerpunkt Flucht | |
Idomeni | |
Schwerpunkt Afghanistan | |
Griechenland | |
Fluchtrouten | |
Schwerpunkt Flucht | |
Griechenland | |
Schwerpunkt Flucht | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Flüchtlinge in Griechenland: Eigentlich keine Kraft mehr | |
Die Familie Marbuk sitzt in einem griechischen Militärcamp im Lager Softex | |
fest. Dabei müsste sie längst an einem anderen Ort sein. | |
Von Bremen an die Balkanroute: „Nicht planlos gen Süden“ | |
Zwei Bremer berichten von ihren Erfahrungen als HelferInnen im kroatischen | |
Slavonski Brod und im mittlerweile geräumten Idomeni in Griechenland. | |
Taliban in Afghanistan: Tote bei Angriff auf Diplomatenviertel | |
Bei einem Angriff der Taliban in Kabul sind mehrere Menschen getötet | |
worden. Die Attacke galt einem Gästehaus nahe der spanischen Botschaft. | |
Flüchtende in Griechenland: Polizei räumt Camp Idomeni | |
Mit rücksichtsloser Gewalt ging die Polizei an der mazedonisch-griechischen | |
Grenze vor. In Bussen werden Flüchtlinge nach Athen gebracht. | |
Kommentar Flüchtlingspolitik: Aus den Augen, aus dem Sinn | |
Wenn die Türkei dafür sorgt, dass keine Flüchtlinge mehr nach Griechenland | |
kommen, wird ihre Situation noch schlimmer. | |
Lage an griechisch-mazedonischer Grenze: Widerstand gegen Abtransport | |
Die Situation in Idomeni ist angespannt. Dort werden seit zwei Wochen nur | |
noch Iraker, Syrer und Afghanen über die Grenze gelassen. Andere sollen | |
nach Athen zurück. | |
Flüchtlingsgipfel der EU: Eingeständnis des Scheiterns | |
Vor dem nächsten Flüchtlingsgipfel plant die EU drastische Schritte. Am | |
Ende könnte unter anderem die Reisefreiheit unter die Räder kommen. | |
Flüchtlingsrouten in Europa: Mazedonien macht auch dicht | |
Die Armee errichtet eine 2,5 Meter hohe Absperrung an der Grenze zu | |
Griechenland. Die Flüchtlinge greifen aus Protest zu drastischen Maßnahmen. |