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# taz.de -- Kolumne Wirtschaftsweisen: Irgendwas mit Refugees
> Flüchtlinge in die künstlerische Arbeit einzubinden, ist gerade sehr
> angesagt – nicht nur in Berlin.
Bild: Eine Bühne für einen kunstvollen Auftritt? Nein, nur ein Wartezelt am L…
Nicht nur so manche Flüchtlingsinitiative klagt derzeit über die vielen
Künstler, die plötzlich irgendwas mit Flüchtlingen machen wollen. In
Stuttgart gibt es schon ein ganzes Programm: „Projekte, die von
Kulturschaffenden mit Flüchtlingen durchgeführt werden“. Und in Bayern hat
eine Schriftstellerin bereits ein Buchprojekt über ihre praktische
Flüchtlingshilfe realisiert. „Die Produktivität der Künstler resultiert aus
ihrer Fähigkeit, sich den wechselnden geistigen Strömungen anzupassen – aus
ihrer moralischen Verkommenheit“, wie es der FAZ-Herausgeber Joachim Fest
einmal ausdrückte, der damit noch einmal den stetigen Unternehmer gegen den
windigen Projektemacher ins Feld führen wollte.
Umgekehrt werden die Flüchtlinge in Berlin schon quasi systematisch an die
Künstler herangeführt. So mietete zum Beispiel das Arbeitsamt in Kreuzberg
kurzerhand („unbürokratisch“) die Galerie Forum Factory und stellte mehrere
Künstler ein, die dort „Deutsch für Ausländer“-Kurse leiten. Die
Kreuzberger Kontakt- und Beratungsstelle für Migranten offeriert gar
„Kunstprojekte für junge Flüchtlinge“.
Das Konzerthaus am Gendarmenmarkt eröffnete seine Saison 2015 mit dem
Countertenor Philippe Jaroussky. Zu Beginn des Konzerts erklärte der
Dirigent, dass man sich mehr um die Flüchtlinge kümmern müsse. Dabei zeigte
er auf eine Gruppe, die vor seinem Pult saß: Es waren syrische Flüchtlinge,
die er eingeladen hatte. Der ehemalige Emigrant Wladimir Kaminer, der das
Konzert mit seiner Mutter besuchte, fand: „Sie wirkten verloren, wie auf
einem anderen Planeten gelandet. Und die zweite Mahler-Symphonie gab ihnen
den Rest.“
## Wie bewegen sie sich?
Das für Refugees besonders empfängliche Maxim Gorki Theater bietet den
Projektemachern von Metrozones (der „unabhängigen Vereinigung für kritische
Großstadtforschung“) eine Bühne für diese Fragen: „Wie bewegen sich
Geflüchtete in einer Stadt wie Berlin, wie organisieren sie ihr
Durchkommen, wo nehmen Refugees sich Räume?“ Zuvor hatten sie in drei
Arbeitsgruppen Flüchtlinge und andere Akteure zu ihren „Erfahrungen und
Überlegungen, Erinnerungen und Wunschproduktionen“ interviewt. Es geht
dabei um das, was sie „Refugee-Komplex“ nennen und um die Einrichtung eines
„selbstorganisierten Center von Refugees“.
„I pity the poor immigrants“, sang Bob Dylan 1967. In der damaligen
Studentenbewegung kümmerte man sich um „politische Flüchtlinge“, die von
„Wirtschaftsflüchtlingen“ unterschieden wurden. Mit der zunehmenden Zahl
von „Kriegs“- und „Bürgerkriegs“flüchtlingen (etwa aus der sich aufl�…
Sowjetunion) verwischte sich diese Differenz in Westdeutschland. Nicht
zuletzt auch aufgrund der durch Liebes- oder Scheinheiraten hierher
gelangten Männer und Frauen aus Osteuropa, Afrika, der Karibik und Asien,
denen Berlin den Karneval der Kulturen verdankt.
## Marcuse für Flüchtlinge
Die berühmte Strategie für Randgruppen, die Herbert Marcuse der
Studentenbewegung anempfahl (weil die Arbeiterklasse ins System
„integriert“ und daher zum Widerstand unfähig sei), wurde in den
Neunzigerjahren erneut aufgenommen: Nun verkörperte der Refugee das
historische Subjekt. „Die Fackel der Befreiung ist von den sesshaften
Kulturen an unbehauste, dezentrierte, exilische Energien weitergereicht
worden, deren Inkarnation der Migrant ist“, schrieb der Exilpalästinenser
Edward Said.
Auch für den Publizisten Neal Ascherson wurden die „Flüchtlinge,
Gastarbeiter, Asylsucher und Obdachlosen zu Subjekten der Geschichte“. Für
den während des Aufstands im Warschauer Getto geborenen Multimediakünstler
Krzysztof Wodiczko hieß das, wie er in einem Vortrag in Berlin ausführte:
„Der Künstler muss als nomadischer Sophist in einer migranten Polis
aufzutreten lernen – auf ihren neuen Agoren, den Plätzen, Märkten, Parks
und Bahnhofshallen der großen Städte.“
Dazu eignet sich Berlin, dessen Marketingmanagern ein amerikanischer
Urbanist unlängst riet, sie sollten sich von dem unseligen „Weltstadt“-Wahn
verabschieden und stattdessen Berlin als das „Transitkreuz“ akzeptieren,
das es faktisch bereits sei.
22 Nov 2015
## AUTOREN
Helmut Höge
## TAGS
Flüchtlinge
Berlin Kultur
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Mathematik
Humboldt Forum
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