# taz.de -- Kolumne Leuchten der Menschheit: Vordenker der Opferkonkurrenz | |
> Über die Trauer anderer urteilen? Wenn es das eigene ideologische System | |
> bestätigt, kann das bei so manchem Vordenker schon mal passieren. | |
Bild: Trauernde haben Blumen vor dem Bataclan abgelegt. | |
Judith Butler, die Hamas und Hisbollah für progressive linke Bewegungen | |
hält, ist eine Vordenkerin. Als Vordenkerin denkt sie nicht nur vor, was | |
andere nachbeten, nein, als Vordenkerin denkt sie auch manchmal voraus. | |
So wusste sie bereits zwei Tage nach den Morden in Paris, dass Angst und | |
Wut der Pariser in die „heftige Umarmung eines Polizeistaates“ umschlagen | |
würden. Und wahrscheinlich wusste sie es sogar schon viel früher und lange, | |
bevor sie feststellte, dass die Trauer national sei, weil kaum jemand die | |
Toten in „Palästina, Beirut oder Ankara“ [1][erwähne]. Judith Butler weiß | |
also, wie man korrekt trauert: auf keinen Fall ohne Opferkonkurrenz. | |
Das sahen viele meiner Facebook-Bekanntschaften in der vergangenen Woche | |
ähnlich und konterten obendrein jeden Ausdruck von Bestürzung mit dem | |
Hinweis auf die Schatten des kolonialen Erbes: „Der vergessene Zusammenhang | |
der Pariser Anschläge“ hieß das dann. Oder: „War is coming home.“ Also | |
selbst schuld. Aber ist der Hass der Mörder von Paris wirklich auch nur den | |
Hauch einer Legitimation wert angesichts all der Schönheit des Lebens, auch | |
erstrittenen Schönheit aka Popkultur, die sie zerstört haben? | |
## Die bösen Bobos | |
Zwei meiner Freunde haben Freunde in Paris verloren. Sie waren Linke, keine | |
Bobos (bourgeoise Bohemiens). Was ich nur deshalb erwähne, weil Bobos in | |
der linksmoralischen Facebook-Opferhierarchie relativ weit unten rangieren. | |
Nietzsche schrieb einmal, in der Trauer verhandele der Trauernde auch sich | |
selbst, die Trauer spiegele immer die Angst vor dem eigenen Tod wider. | |
Das würde immerhin erklären, weshalb vielen in Berlin oder London die Toten | |
von Paris näher sind als die von Beirut: weil wir uns in ihrer Form des | |
urbanen Lebens eher wiedererkennen. | |
Die Angst vor Nationalismus, Überwachung und Islamophobie ist angesichts | |
einer in ganz Europa stärker werdenden Rechten nur verständlich. Aber ist | |
in diesem Zusammenhang die postkolonialistische Version der Sündenschuld | |
nicht bloß ein abgedroschenes Scheingefecht in der moralisch reinen | |
Wohlfühlzone einiger Linker? Besser ist es, ohne Fahne zu leben. Aber die | |
Trikolore macht aus einem Trauernden noch keinen Faschisten. | |
## Freiheit gleich Polizei | |
Alain Badiou, auch ein Vordenker, fragte nach dem Massaker an den | |
Charlie-Hebdo-Journalisten Anfang des Jahres, ob die Freiheit – „jene des | |
Denkens, der Meinungsäußerung und der Aktion inbegriffen, ja die des Lebens | |
schlechthin – wirklich darin bestehe, Hilfskräfte der Polizei zu werden“. | |
Und hatte der Republikanische Marsch nach den Massakern nicht gezeigt, dass | |
„die unteren Schichten so wenig Charlie waren wie die Jugendlichen aus den | |
Vorstädten [...] oder wie die Arbeiter aus der Provinz“, wie der | |
französische Soziologe Emmanuel Todd in seinem Buch „Wer ist Charlie? Die | |
Anschläge von Paris und die Verlogenheit des Westens“ (C. H. Beck, 2015) | |
schreibt? | |
Der Republikanische Marsch und das ganze Charlie-Ding sei bloß ein Projekt | |
der gehobenen Mittelschicht, die „egoistisch, autistisch und repressiv | |
eingestellt“ sei, so Todd. Nicht mal das Verdikt „falsches Bewusstsein“ | |
genügt ihm – ganz so einfach will er die Blasphemiker der Freiheit und | |
Religion, die „Charlies“, wie er sie alle kurz nennt, nicht davonkommen | |
lassen. | |
## Es gibt mehr als nur einen Grund | |
Frankreich ist zutiefst klassistisch, aber die soziale Diskriminierung ist | |
nicht der wesentliche Grund für den europäischen Dschihadismus. Die | |
Biografien der jungen europäischen Dschihadisten unterscheiden sich stark | |
voneinander. | |
„Viele haben Diskrimierungserfahrungen hinter sich. Keineswegs aber stammen | |
alle aus bildungsfernen Schichten. Keineswegs sind alle Kinder aus ärmeren | |
Schichten, und keineswegs haben alle unter antimuslimischen Ressentiments | |
zu leiden“, hat der Wiener Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger für | |
sein Buch „Jihadismus“ (Mandelbaum Verlag, 2015) herausgefunden. | |
Und selbst wenn es so wäre: Nichts rechtfertigt die Massaker von Paris und | |
anderswo. | |
23 Nov 2015 | |
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[1] http://bit.ly/1HTq5EH | |
## AUTOREN | |
Tania Martini | |
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