| # taz.de -- Kolumne Vollbart: Schluss mit Berliner Schnauze! | |
| > Was lernt man in Berlin für‘s Leben? Unser Autor zieht Bilanz – und dann | |
| > von dannen. | |
| Bild: Auch hier gilt: Wer angeschnauzt wird, muss sofort zurückschnauzen. Sons… | |
| Schluss mit Berlin. Schluss mit Neukölln. Schluss mit Vollbart. Schluss mit | |
| Hipstertum. Schluss mit dem bösen Ausländer. Schluss mit den guten | |
| Deutschen. Schluss mit Queerness. Schluss mit allem. | |
| Dabei hat mir diese Stadt zu viel gegeben. Und ich habe unglaublich viele | |
| Dinge hier gelernt: | |
| Wer angeschrien wird, zum Beispiel im Bus, muss immer direkt | |
| zurückschreien. Überhaupt immer schreien oder genervt stöhnen. Immer. Hass | |
| kann produktiv sein. | |
| Ein Vollbart ohne Katzenpullover macht einen zum Dschihadisten. Ein | |
| Vollbart mit Katzenpullover meint Hipster. Ein Vollbart, schwarze Kleidung | |
| und grimmige Miene bedeutet Gefahr – deswegen Tasche festhalten. | |
| Eins der beliebtesten Spiele in Berlin, egal ob in der U-Bahn oder in einer | |
| vollen Bar, heißt: Renn-auf-die-freien-Plätze-und haue-dabei-Leute-um. | |
| Immer überall Erster sein. Gestresst überall hinlaufen, als ob zwei Minuten | |
| einen umbringen würde. Niemals stehen bleiben. | |
| Sätze sagen wie: „Das kenn ich schon, da war ich bei der Eröffnung | |
| eingeladen.“ „Nee, da war es früher echt gut, aber jetzt gehen da alle | |
| hin.“ | |
| Die Minderheitenunterdrückungsolympiade ist nirgendwo so ausgeprägt wie | |
| hier – Feminist_innen gegen Migrant_innen, Schwule gegen Muslime, Lesben | |
| gegen Trans*Menschen. | |
| Das Thema Berghain funktio_niert immer und schafft auch international | |
| Anerkennung. Für Extra-Coolness immer darauf verweisen, dass „wir“ als gute | |
| Berliner_innen Sonntagmittag ins Berghain gehen und nicht wie die Touristen | |
| Freitagnacht. Das Programm auswendig lernen und die DJs mit Namen kennen. | |
| Und immer antworten, wenn jemand fragt, wie sie_er ins Berghain kommt – | |
| egal, ob man es weiß oder nicht. | |
| Wer kein Geld hat, vermietet seine Wohnung einfach auf Airbnb unter und | |
| schläft so lange bei Freunden. Wer kein Geld hat und trotzdem was trinken | |
| will, besucht Vernissagen. | |
| Der Westen ist weit weg. Der M29 die schlimmste Buslinie überhaupt. Der | |
| Dreck gehört zur Stadt dazu. Alles, was sauber ist, macht Angst. | |
| Es gibt einen berlintypischen Hass auf Touristen – obwohl die meisten | |
| Menschen hier aus irgendeinem Scheißvorort im Westen kommen. Logisch, immer | |
| gegen die Gentrifizierung sein. Zur Not Menschen in schönen Cafés | |
| anschreien. | |
| Wer etwas über Rassismus in Berlin lernen will, sollte sich anhören, wie | |
| Biodeutsche über Neukölln, die Besetzung des Oranienplatzes oder den | |
| Görlitzer Park labern. | |
| Die Markenzeichen der Stadt: Ironie und Coolness. Aber natürlich kritisch, | |
| politisch und so voll gebrochen. | |
| Die Rollberg-Passagen sind ein trister Ort. Das Jobcenter Neukölln ist die | |
| Pest. Aber Projekte gehen irgendwie immer. | |
| Wer eine_n Partner_in finden will, geht in den Bioladen. Wer Kinder | |
| bekommt, zieht nach Prenzlauer Berg oder Mitte. Wer genug hat, nach | |
| Spandau. | |
| Ich verlasse diese Stadt und ziehe in eine neue, die ich hoffentlich | |
| ähnlich schnell zugleich hassen und lieben kann. | |
| Also Schluss mit Berlin. Schluss mit Neukölln. Schluss mit Vollbart. Doch | |
| niemals Schluss mit Rasselbande, Pizza und Amore. | |
| 15 Nov 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Enrico Ippolito | |
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