# taz.de -- Die souveräne Ambivalenz der Strickjacke: Mit dem Aschenputtel tan… | |
> Sie war immer nur langweiliger Vertreter des Common Sense. Wie kann es | |
> sein, dass die Strickjacke von der Haute Couture entdeckt wird? | |
Bild: Ein Kaschmir-Cardigan von Alexander McQueen? Madonna kann das tragen. | |
Ausgerechnet das Aschenputtel spielt sich als Favoritin auf: die | |
Strickjacke, die jahrelang über einer Stuhllehne hängen kann, ohne jemandem | |
aufzufallen. Fast kann man sie für einen Teil der Küche halten. Sie passt | |
gut zu einer Grippe, zu Marmeladenbroten und Nachmittagen auf dem Sofa. Ein | |
Modekritiker der New York Times bezeichnete sie deshalb als “fashion’ssad | |
sack“. | |
Der Kritiker wunderte sich. Wie konnte es sein, dass dieser langweilige | |
Vertreter des Common Sense, diese Apologetin der Alltäglichkeit, plötzlich | |
anfing, in den Fashionstores zu reüssieren? Gut, das Layering. Eine gewisse | |
urbane Lässigkeit kann der Strickjacke eigen sein, vorausgesetzt, man | |
bringt den Sinn für Schichtungen und Proportionen mit. Ehrlich gesagt, | |
besonders schmeichelhaft ist die Strickjacke meistens nicht. | |
Sie betont die Schultern, die Brust, zieht den Torso optisch in die Breite. | |
Plus fünf Kilo muss man mindestens rechnen. Nicht selten hat die | |
Strickjackengestalt etwas Rustikales, Schrankwandähnliches. Für Leute mit | |
abfallenden Schultern kann das der ideale Ausgleich sein. Für sehr dünne | |
und feingliedrige Menschen, an deren Körpern die Strickjacke trotzdem noch | |
angenehm schwungvoll wirken kann. Aber so? Der Hype der Strickjacke, ihre | |
massenhafte öffentliche Zurschaustellung muss einen anderen Grund haben als | |
die ästhetische Vorteilsuche. Ein Motiv, eine Sehnsucht, ein Kette von | |
Assoziationen, die den Cardigan für relevante Dresscodes erschließt. | |
Ein Wollknäuel rollt einem da sofort vor die Füße. Die Wolle kodiert die | |
Jacke als Gegenstand des Alltags. Nachhaltig und ökologisch korrekt spinnt | |
sie in unsicheren Zeiten einen besänftigenden Faden. Sie bringt etwas stark | |
Deeskalierendes mit in den Raum. | |
Ein glamouröser Partygast ist die Wolle ganz sicher nicht. Von der Haute | |
Couture wird sie abschätzig behandelt. Es sei denn, sie präsentiert sich | |
als schickes, kleines schwarzes Tanktop von Raf Simons. Vor zwei Jahren war | |
die Modekritikerin Suzy Menkes über solche Raffinesse entzückt und räumte | |
der Wolle fortan eine gewisse Chance auf der Topetage ein. | |
Hinzu kam, dass Chanel gerade den Kauf der schottischen Edelstrickfirma | |
Barrie beschloss. Man sicherte sich den Zugriff auf die im globalen Handel | |
bedrohten und für das eigene Selbstverständnis unverzichtbaren Quellen | |
künstlerisch-handwerklicher Exzellenz. Das Bearbeiten von Federn, von | |
Seidenspitze und ja auch die Handhabung von Wolle gehören in den Kanon der | |
Selbstvergewisserung. Nicht bloß, dass Tweed Coco Chanels Lieblingsmaterial | |
gewesen ist. Die Wolle und mit ihr die Strickjacke hat im Hause Chanel | |
tatsächlich eine Sonderrolle. | |
Die Rede ist vom Bicolor Cardigan. Heute ein modisches Investment, war er | |
in den 1920ern die erste moderne Strickjackenübersetzung der weiblichen | |
Mode. Aus dem Vokabular der Männermode holte er sich die Bewegungsfreiheit, | |
das Schnörkellose herüber. Die Strickjacke, zuerst hat sie den Laufburschen | |
und Soldaten gehört. Eine wollene Weste, die ihren Namen Lord Cardigan, dem | |
mutmaßlich inkompetentesten Anführer der englischen Militärgeschichte, | |
verdankt. Bei Chanel kleidete sie einen weiblichen Stilsoldaten. | |
Die Kanten farblich abgesetzt – die Strickjacke vom Place Vendôme legt Wert | |
auf Exaktheit und Haltung. Angelehnt wird sich nicht, gekuschelt auf gar | |
keinen Fall. Im Netz gibt es ein Video, das vieles erklärt. Gestrickt wird | |
bei Chanel nämlich keine Strickjacke, sondern schlicht ein Pullover, den | |
eine Schere in der Mitte dann zerschneidet. Man kann das symbolisch deuten. | |
Die Stabilität der Form verdankt sich einer Zäsur. Lichtjahre ist das | |
entfernt von jeder Strickidylle und der Vorstellung einer ihrer Umgebung | |
mit Wärme und Schutz versorgenden Häuslichkeit. Die Wolle wird kühl mit | |
dieser Strickjacke. Sie härtet aus. | |
## Auch Roland Barthes trug Strickjacke | |
Der französische Philosoph Roland Barthes hat eine ähnlich unsentimentale | |
Strickjacke getragen. In seinem Arbeitszimmer in Paris, in dem er schrieb, | |
Klavier spielte, Musik hörte und gegen elf am Vormittag eine Tasse Kaffee | |
trank, zeigt ihn ein Foto in einem roten, zugeknöpften, sehr gerade | |
geschnittenen Cardigan. Auch diese Strickjacke verwahrt sich gegenüber der | |
falschen Idylle. Sie ist zurückhaltend, diskret. Sehr wenig verrät sie über | |
das Begehren des Körpers. Sie wird nicht privat, und das erzeugt eine | |
melancholische und wunderbar subtile Distanz, die in den besten | |
Strickjackeninszenierungen immer wieder auftaucht. | |
In einem bürgerlichen Diskurs hat man die Strickjacke übrigens lange Zeit | |
entweder den alten Männern oder den Frauen zugeordnet. Für eine | |
kampfbereite, ihren Tagesgeschäften nachgehende heterosexuelle Männlichkeit | |
schien die Strickjacke etwas zu unambitioniert. An den Körpern der Frauen | |
signalisierte sie meist die Armut oder die Jugend. Oft das Zurückdrängen | |
von Sexualität. | |
Man könnte die Strickjackenszenen der Literatur und des Kinos danach | |
durchsehen. Rockys Freundin Adrian wickelt sich die Strickjacke um den | |
29-jährigen jungfräulichen Leib. In „Belle de Jour“ trägt Séverine Klei… | |
von Yves Saint Laurent, wenn sie mit fremden Männern schläft. Im | |
Winterurlaub, beim Mittagessen mit dem Ehemann sitzt sie in Strickjacke mit | |
Bündchen. So zierlich ist die Knopfleiste. So fein das Frauchen. | |
Das Strickbündchen kann am besten wirken, wenn die Knopfleiste mädchenhaft | |
bleibt. Ohne ein Prinzip daraus abzuleiten, aber ungefähr könnte man sagen: | |
Das unbestimmte Flair einer Strickjacke verträgt sich nicht besonders mit | |
dem straffenden Bündchen der Tradition. Man kann es gut an der | |
Ton-in-Ton-Prüderie und frivolen Wohlanständigkeit eines Twinset erkennen. | |
Oder umgekehrt an einer Grunge-Strickjacke, die länger und länger wird, | |
weiter und weiter, weil ohne ein festes Bündchen niemand es schafft, sie zu | |
disziplinieren. Ein- und wieder auswickeln kann man sich in diese uferlose | |
Strickjacke, je nach Belieben. Fast nie sieht man sie ordentlich | |
zugeknöpft. | |
Auch jetzt nicht, da junge Frauen sie in sehr kurzen Röcken und | |
Strumpfhosen tragen wie einen offenen Mantel. Oder stilbewusste Männer, die | |
zum Oversize-Cardigan sehr enge Hosen kombinieren. Die Beine sind innerhalb | |
der Strickjackenavantgarde der stärkste Komplize, zu sehen ist das etwa bei | |
einem Strickjackenexperten wie James Franco, der sich auf einen bestimmten | |
Typ nicht festlegen will. Da wären solche mit und ohne Schalkragen, | |
Cardigans aus Baumwolle oder Bouclé. Manche Inszenierungen wirken rustikal, | |
fast ans Traditionelle mahnend, andere schlampig ungenau. Diese | |
Strickjacken könnten einem artigen Mädchen, einem schwulen Holzfäller oder | |
einem Aufreißer alter Schule wie Rex Harrison gehören. | |
## Sie panzert nicht, ist keine Uniform | |
Wunderbar mehrdeutig kann die Strickjacke sein. Sie kann grau und | |
langweilig, genauso gut kann sie ins Gegenteil changieren. Die Außengrenzen | |
der Identität belässt sie als Provisorium. Sie panzert nicht. Sie ist keine | |
Uniform. Die Soldaten des 19. Jahrhunderts trugen sie unter derselben. | |
Junge Geschäftsleute kombinieren sie mit Anzug. So, als wollten sie die | |
Glätte der Oberfläche aufrauen und, bewusst oder unbewusst, das Bild der | |
eigenen Businesshaftigkeit souverän unvollendet lassen. | |
Die Strickjacke bietet diesen Zwischenraum. Man kann mit dem Aschenputtel | |
tanzen. Oder die Ambivalenz ignorieren. Jede Strickjackeninszenierung wird | |
die Entscheidung auf den ersten Blick verraten. Sie wird den Kontakt | |
definieren, die Schnittstelle zwischen Knopfleiste, Bündchen und Welt. | |
Die Mode liebt die Ironie, so heißt es. In diesem Sinne ist die Strickjacke | |
eine heimliche Meisterin. Bei Chanel übrigens sehen die Cardigans in diesem | |
Jahr aus, als hätte sie eine sehr begabte Oma für ihre Enkeltochter | |
gestrickt. Niedlich und bereit für die Idylle. Für knapp 3.000 Euro spielt | |
Aschenputtel – ja wen wohl: Aschenputtel. | |
16 Nov 2015 | |
## AUTOREN | |
Elisabeth Wagner | |
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