# taz.de -- Ministerpräsident Torsten Albig: Die Geschichte vom roten Luther | |
> Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Torsten Albig zeigt Haltung in der | |
> Flüchtlingsfrage – im Gegensatz zu seiner Partei, der SPD. Ein Portrait. | |
Bild: 11. September 2015: Torsten Albig (Mitte) besucht Flüchtlinge und Helfer… | |
Kiel taz | Mit der linken Hand streicht Torsten Albig am unteren Rand des | |
Manuskripts entlang, mit der rechten oben, dann wandern die Hände zu den | |
danebenliegenden Blättern, streichen die ordentlichen Ränder glatt, ordnen, | |
streichen, glätten, während Albig ruhig über Deutschland in Zeiten der | |
Flüchtlinge spricht. Es ist die große Aussprache der Ministerpräsidenten im | |
Bundesrat zu den Änderungen des Asylgesetzes am 16. Oktober. | |
Albig spricht als Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, vor ihm hat | |
Winfried Kretschmann für Baden-Württemberg von einer „historischen | |
Bewährungsprobe“ geredet, Sachsens Stanislaw Tillich sah „eine | |
Überforderung“, Hannelore Kraft mahnte für Nordrhein-Westfalen, dass | |
„weniger zu uns kommen“ sollen. Albigs Hände kommen zur Ruhe, er hebt sie | |
und sagt: „Wir müssen denen unser Land zur Heimat machen, die ihr Land | |
verloren haben.“ | |
„Die Herzen öffnen“ heißt die Geschichte von Albig über die Flüchtlinge… | |
Land. Eine starke Geschichte. Sie hält, wenn sich die Kurznachrichten aus | |
der SPD, der CDU und auch die Drohungen aus der CSU versenden. | |
Mitgefühl trägt die Menschheit seit Jahrhunderten, Transitzonen und | |
Obergrenzen im Asylrecht sind nicht mal eine Fußnote. „Die sind | |
verständlicherweise in großer Sorge“, sagt Albig in seinem Dienstzimmer in | |
Kiel und meint die SPD-Spitze. Zurückgelehnt im schwarzen Ledersessel, | |
beugt er sich plötzlich zum Beistelltisch, stellt einen roten Plastikwecker | |
auf die Füße, der auf der Acht lehnte. Albig schaut prüfend, die | |
chinesische Vase steht, die Magnumflasche Flensburger haut eh nix um. | |
## Botschaft stützt Sender | |
Die SPD hat bei aller Aufgeregtheit weder ihre Rolle noch ihre Story in der | |
Flüchtlingsfrage gefunden. Albig hingegen weiß, wie man schwierige Themen | |
so erzählt, dass sie nicht zerpflückt werden können. Und wie die Botschaft | |
den Sender stützt. Sechs Jahre war er Sprecher des | |
Bundesfinanzministeriums, erst vermittelte er für Hans Eichel Steuerreform | |
und Sparpolitik der rot-grünen Bundesregierung, dann die Europäischen | |
Rettungsschirme für Peer Steinbrück und die große Koalition. Er war bei den | |
Nachtsitzungen in Brüssel dabei, auf Treffen mit Weltbank und IWF, er kennt | |
das japanische Finanzministerium und die amerikanische Notenbank von innen. | |
Zwischendurch machte Albig einen Ausflug als Konzernsprecher zur Dresdner | |
Bank. | |
Sein Horizont reicht weiter als der des Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel, | |
der gern auf seine proletarische Herkunft verweist, allerdings die | |
Umgangsformen des Milieus nicht abgelegt hat. Albig, 52, lässt auch mal | |
fallen, dass seine Mutter eine ganz einfache Frau in Bielefeld sei. Aber | |
Albig hat Bielefeld mental hinter sich gelassen. Er trägt handgenähte | |
Budapester Schuhe und besitzt die Souveränität, eine lederne Henkeltasche | |
als Aktenkoffer zum dunkelblauen Anzug zu tragen. | |
Seit 2012 regiert Torsten Albig als SPD-Ministerpräsident in einer | |
Koalition mit den Grünen und dem Südschleswigschen Wählerverband. „Extrem | |
kollegial“ findet ihn Robert Habeck, grüner Umweltminister in Kiel und | |
Vizechef der Regierung. „Albig ist sehr darauf bedacht, nicht den | |
autoritären Boss zu geben“, sagt Habeck, der sich als Spitzenkandidat der | |
Grünen für den Bundestagswahlkampf 2017 schon angemeldet hat. Für Albig ist | |
er voll des Lobes, was genau so viel über Habeck aussagt wie über Albig. | |
Einen „fairen Makler“ nennt Habeck ihn, Albig fördere die Solidarität im | |
Kabinett. In der Flüchtlingspolitik findet er Albig „sehr authentisch“. | |
Im Bundesrat spricht Albig von Mitmenschlichkeit, erzählt von den Roma in | |
Bulgarien, die dort in Höhlen leben, von dem Entsetzen seiner Tochter bei | |
einem Besuch im Sommer und verschweigt nicht, dass ihm die Worte fehlten, | |
seiner Tochter das Elend in Europa zu erklären. Pastoral nennen seine | |
Kritiker seinen Redestil und meinen das nicht anerkennend. Rhetorisch | |
geschliffen legt er dar, warum Schleswig-Holstein die 50.000 Flüchtlinge in | |
diesem Jahr aufnehmen kann, doch seine stärksten Argumente sind nicht | |
demografische und wirtschaftliche Gründe. Die intellektuellen Erklärungen | |
perlen Albig von den Lippen, fundiert, druckreif, aber diskutierbar und | |
somit angreifbar. Sein kräftigstes Argument ist unwiderlegbar und | |
zementiert den Kern seiner Geschichte, die damit zeitlos wird. „Wir nehmen | |
sie auf, weil wir eine Haltung haben“, sagt Torsten Albig. | |
## „Stabiles Wertefundament“ | |
Die Haltung glänzt rot. In Kutte und mit der aufgeschlagenen Bibel vor der | |
Brust steht Martin Luther, in roten Kunststoff gegossen, neben Albigs | |
Sessel. Der Reformator blickt aus der Sitzecke, Auge in Auge mit jedem, der | |
sich dort niederlässt. „Ja, mein Glaube hilft mir sehr, Wichtiges und | |
Unwichtiges voneinander zu scheiden“ sagt Albig. Er windet seine linke | |
Schulter und den Kopf ganz kurz, als wäre es ungehörig und nicht nur | |
ungewöhnlich, wenn ein Linker was mit Gott zu tun hat. „Mich trägt ein | |
stabiles Wertefundament, das, losgelöst von den täglich wechselnden | |
Emnid-Umfragen, gefestigt bleibt“, sagt Albig, nun wieder gerade gerückt | |
wie der rote Wecker. | |
Solche Hiebe regen die Genossen auf. Wenn Albig ausholt, zielt er auch auf | |
Sigmar Gabriel, Vizekanzler, Wirtschaftsminister und SPD-Vorsitzender. | |
Dessen Besuch bei Pegida findet er falsch, und er hält nichts von der | |
Kohlepolitik, wenn die Regierung doch die Energiewende umsetzen will. Die | |
wenigsten in der SPD verstehen Albigs Taktik, die Partei voranzubringen. | |
Albig ist ihr verbunden, aus Überzeugung, wie er sagt. Seine Karriere | |
verdankt er der Partei. Auch das verbindet und spornt ebenso an, den Laden | |
SPD weiterzuentwickeln. | |
Die meisten in der SPD haben ihm nicht verziehen, dass er im Juli Angela | |
Merkel „eine gute Kanzlerin“ nannte. In einem Fernsehinterview sagte er: | |
„Sie macht das ganz ausgezeichnet.“ Mit einem Kanzlerkandidaten brauche die | |
SPD erst gar nicht anzutreten, das Kanzleramt könne die SPD vorläufig | |
vergessen. „Ich verstehe ihn nicht“, sagt Malu Dreyer, Ministerpräsidentin | |
von Rheinland-Pfalz, und ihr freundliches Lächeln gerinnt. „Das ist mir ein | |
vollkommenes Rätsel, warum er das gemacht hat. Er ist doch ein kluger | |
politischer Kopf.“ | |
## Wahlkampf nach Themen | |
Den nächsten Bundestagswahlkampf solle die SPD mit Themen führen, findet | |
Albig. Nach dem Motto „Merkelfaktor nur mit uns“, denn nur mit der SPD | |
konnte Merkel ihr freundliches Gesicht zeigen. „Natürlich brauchen wir | |
einen starken Spitzenkandidaten – für einen Wahlkampf, der die SPD in den | |
Mittelpunkt stellt und nicht die Person“, sagt Albig. | |
Er weiß, dass die Flüchtlinge die Menschen in Orten mit Namen wie | |
Lütjenburg und Rondeshagen an die Grenze ihrer Belastbarkeit bringen. | |
Lehrer, Polizisten einstellen, Erzieher in Traumaarbeit schulen, zählt | |
Albig die Aufgaben auf, die anstehen und die er managt, auch wenn der | |
Landesetat überzogen wird. In Russland hat er Container kaufen lassen, | |
damit schafft Schleswig-Holstein 10.000 Plätze für die Erstaufnahme. 25.000 | |
Plätze will er bis Jahresende haben. Die Kommunen sollen entlastet werden | |
und die Flüchtlinge mindestens fünf Wochen in den Erstaufnahmestellen | |
bleiben. | |
400 Flüchtlinge kommen jeden Tag nach Schleswig-Holstein, 50.000 Menschen | |
in diesem Jahr und wenn Albig diese Zahl nach dem Königsteiner Schlüssel | |
hochrechnet, dann kommt er auf 1,3 bis 1,5 Millionen Flüchtlinge in ganz | |
Deutschland. „Wir sind weit von dem entfernt, was wir gesellschaftlich | |
leisten könnten„, sagt Albig und wiederholt „könnten“ mit erhobener Sti… | |
Sein Dienstsitz liegt in einem Klinkerbau, der 1963 den Preis der | |
Architektenkammer erhalten hat. In ihrer Nüchternheit spiegelt die | |
ehemalige Landwirtschaftsschule den Aufbruch, den das arme | |
Schleswig-Holstein nach Kriegsende anstrebte. Die Häfen kaputt, die Werften | |
demontiert, die Städte zerbombt, brachten die 1,3 Millionen | |
Schleswig-Holsteiner eine Million Flüchtlinge aus Ostpreußen unter. „Auf | |
1.000 Bewohner kamen über 700 Flüchtlinge, in diesem Jahr treffen 18 | |
Flüchtlinge auf 1.000 Einwohner“, sagt Albig und erinnert die Schleswiger | |
und Holsteiner gern daran, dass sie und ihre Vorfahren das damals auch | |
geschafft haben. | |
## Die A-Jacht | |
Vor seinem Dienstzimmer mit Balkon, groß wie eine Schiffsbrücke, liegt die | |
Förde. Ein Kutter segelt vorbei, hübsch, aber dann kommt die „Sailing Yacht | |
A“, der größte Dreimaster der Welt. Das Design stammt von Philippe Starck; | |
die hellgraue Farbe, die ovalen Bullaugen, jede Teakplanke – alles | |
einmalig, erzählt Albig. Ein russischer Milliardär hat sich die Jacht auf | |
der Kieler Werft bauen lassen. Goldene Lampen beleuchten die Kajüte des | |
Eigners, extra von dem Goldlampenhersteller gefertigt, der Russe besteht | |
auf dem Einzigartigen. Da der Hersteller nicht nur zwei Lampen fertigen | |
wollte, habe der Russe eben 40 goldene Lampen gekauft, 2 einbauen und 38 | |
wieder einschmelzen lassen, erzählt Albig. Das Denken in Größe beeindruckt | |
ihn. | |
Albig ist der einzige Ministerpräsident, der den Politikbetrieb in Berlin | |
kennt und zugleich in der Finanzwirtschaft gearbeitet hat. In Kiel fing er | |
als Dezernent an und war dann zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort, um | |
das personelle Vakuum in der SPD zu füllen. Auf Anhieb bekommt er die | |
Mehrheit, um 2009 als Spitzenkandidat der SPD in die Wahl zum | |
Oberbürgermeister von Kiel zu gehen. Ein Jahr später gewinnt er gegen den | |
schleswig-holsteinischen SPD-Vorsitzenden Ralf Stegner, zieht in die | |
Landtagswahl 2012 und gewinnt. | |
Wenn man Albig aus seiner Biografie ableiten würde, dann hätte er Chancen, | |
2017 der Spitzenkandidat der SPD zu sein. Eine These, die Albig | |
zurückweist. Er hat es gut in Schleswig-Holstein, ist Herr im Klinkerhaus. | |
Aber seine Geschichte von Herz und Haltung trägt. Starke Geschichten | |
entfalten ihre eigene Kraft. Sie kann ihn von Kiel nach Berlin tragen, wenn | |
dort die Erzählungen der Angst nicht mehr halten. | |
2 Nov 2015 | |
## AUTOREN | |
Ulrike Fokken | |
## TAGS | |
Torsten Albig | |
Schleswig-Holstein | |
SPD | |
Schwerpunkt Flucht | |
postfaktisch | |
Bündnis 90/Die Grünen | |
Malu Dreyer | |
Kanzlerkandidatur | |
Torsten Albig | |
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