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# taz.de -- Debatte Türkische Innenpolitik: Erdoğan gegen die „Anderen“
> Der türkische Präsident Erdoğan hat die Neuwahl erzwungen. Ob er dann das
> Wahlergebnis auch respektiert, ist fraglich.
Bild: Alles unter Kontrolle. Bussi.
Am 1. November soll in der Türkei gewählt werden. Die Betonung liegt auf
„soll“, denn wenige Tage vor der Wahl bestehen immer noch Zweifel, ob
dieser Urnengang überhaupt stattfinden wird. Der Grund dafür ist eine Art
doppelter Ausnahmezustand. Nach dem verheerenden Attentat in Ankara am 10.
Oktober ist das Land weit von jeglicher Normalität entfernt.
Die Angst grassiert, dass sich ein ähnlicher Terrorakt wiederholen könnte.
Zum einen, weil allmählich klar wird, wie weit sich die Mörder des
Islamischen Staats (IS) in der türkischen Gesellschaft eingenistet haben.
Und weil nach wie vor das Gefühl herrscht, die Regierung und Präsident
Recep Tayyip Erdoğanwollen die islamistischen Terroristen gar nicht
wirklich bekämpfen, weil sie glauben, diese gegen die kurdische PKK (und
die kurdisch-linke HDP) benutzen zu können.
Anders ist die Tatenlosigkeit der Polizei und des Geheimdienstes vor dem
Attentat kaum zu erklären. Auch nach dem Terrorakt lassen die Aktivitäten
der Sicherheitskräfte gegen IS-Zellen in der Türkei noch viele Fragen
offen. Deshalb ist ein erneuter Anschlag jederzeit möglich, und man muss
wohl davon ausgehen, dass die Wahlen dann zum vorgesehenen Zeitpunkt nicht
stattfinden können.
Die andere, die zweite Seite des Ausnahmezustands betreffen die immer
größer werdenden Zweifel an der demokratischen Gesinnung der regierenden
AKP und ihres Übervaters Erdoğan.Denn eigentlich sind die Wahlen am 1.
November völlig überflüssig.
Die türkischen WählerInnen haben ihre Meinung bei der Wahl am 7. Juni
dieses Jahres kundgetan, und die war eindeutig: die AKP wurde nach 13
Jahren an der Regierung abgewählt. Die Partei verlor ihre absolute Mehrheit
und hätte allenfalls in einer Koalition weiter mitregieren können.
Präsident Erdoğanhat dieses Ergebnis nicht akzeptiert und eine erneute Wahl
– die jetzt für den 1. November geplante – erzwungen. Damit stellt sich die
Frage: Wäre Erdoğanbereit, dieses Mal die demokratische Entscheidung der
türkischen Wähler zu akzeptieren, wenn diese der AKP erneut die absolute
Mehrheit verweigern?
Das ist keine rhetorische Frage, sondern kennzeichnet den Kern des
türkischen Ausnahmezustands. Ist der mächtigste Mann des Landes nach seiner
beispiellosen Karriere bereit, sich an demokratische Spielregeln zu halten?
Die Zweifel daran werden immer größer, und sie sind nur zu berechtigt.
Erdoğansieht sich selbst längst nicht mehr als einen normalen Politiker,
dem ein Mandat auf Zeit erteilt wurde. Er befindet sich auf einer Mission,
und die heißt: „Neue Türkei“. Eine neue Republik mit einem starken Mann an
der Spitze, der sich gleichzeitig als religiöser Führer eines
sunnitisch-islamischen Gemeinwesens sieht. Und ein Land, das sich möglichst
eng an das 1918 untergegangene Osmanische Reich anlehnt.
## „Wir“ gegen die „Anderen“
Kann eine solche Mission an der Wahlurne gestoppt werden? Nach
ErdoğansSelbstverständnis nicht. Zu Beginn seiner politischen Karriere
Anfang der 1990er Jahre hat Erdoğansein politisches Selbstverständnis
einmal so erklärt: „Demokratie ist wie mit der Straßenbahn fahren. Wenn man
am Ziel ist, steigt man aus.“ Lange Zeit schien es, als sei dieser Spruch
die Jugendsünde eines geläuterten Politikers. Jetzt könnte sich
herausstellen, dass er nach wie vor noch genauso denkt.
Je öfter er in den letzten Monaten redete, desto mehr wurde klar: Die
säkulare Opposition, die Aleviten, die Kurden und alle anderen Kritiker
seiner Mission sind für ihn keine legitimen politischen Gegner, denen man
im normalen demokratischen Wechsel das Land überlassen kann. Sie sind
„Terroristen“ und „Verräter“ die mit allen Mitteln zu bekämpfen sind.
Spätestens seit dem Gezi-Aufstand im Sommer 2013 gibt es für Erdoğannur
noch „Wir“ und die „Anderen“.
Es ist dieser Hintergrund, der vieleErdoğan-Gegner glauben lässt, dass die
Terroranschläge von Suruç und Ankara keine authentischen Anschläge des
Islamischen Staats waren (der sich im Übrigen auch nie dazu bekannte?),
sondern dass der Terror Teil einer Strategie zur Vernichtung der „Anderen“
ist, bei der der Geheimdienst Sympathisanten des IS für sich
instrumentalisierte. Regelmäßig hielten deshalb Teilnehmer bei
Trauerdemonstrationen Plakate mit der Aufschrift „Erdoğan,Mörder“ hoch.
Die Wahl am kommenden 1. November ist deshalb weit mehr als eine normale
Wahl. Sie kann den Ausnahmezustand beenden oder ihn erst recht manifest
machen.
Das positive Szenario ist: Die Wahl findet statt. Das Ergebnis entspricht
in etwa dem vom Juni, und Erdoğanist bereit, dieses Ergebnis im zweiten
Anlauf zu akzeptieren. Damit wäre der Weg frei für eine Große Koalition von
AKP und CHP, deren erste und wichtigste Aufgabe es wäre, zu Deeskalieren
und die Spaltung zwischen „Wir“ und die „Anderen“ so weit aufzuheben, d…
alle wieder zu legitimen Bürgern der Republik werden, auch wenn sie anderer
Ansicht sind als Erdoğan.Das wäre dann das Ende der Mission „Neue Türkei�…
## Drohender Notstand
Das schwierige Szenario ist: Die Wahl findet statt, der „Terrorwahlkampf“
tut seine Wirkung, und die AKP erreicht wieder die absolute Mehrheit. In
diesem Fall bliebe Erdoğandie Entscheidung, aus der „Straßenbahn
Demokratie“ auszusteigen, erspart. Er würde die nächste Etappe seiner
Mission „Neue Türkei“ in Angriff nehmen.
Bleibt noch das Katastrophenszenario: Durch einen weiteren Terroranschlag
und/oder einen Einmarsch türkischer Truppen im Nordirak wird die Wahl
ausgesetzt und der Notstand verhängt. Erdoğanwürde damit einer absehbaren,
von fast allen Umfrageinstituten prognostizierten erneuten Wahlniederlage
zuvorkommen und ohne Parlament per Verordnung weiterregieren. Das wäre das
vorläufige Ende der Demokratie in der Türkei, und es würde
höchstwahrscheinlich zu einem Bürgerkrieg führen.
Was das für Europa und die weiteren Flüchtlingsbewegungen bedeuten würde,
ist unschwer vorauszusehen. Leider hat Kanzlerin Merkel mit ihrem Besuch
kurz vor den Wahlen den Autokraten in Erdoğaneher unterstützt und nichts
dafür getan, dass das positive Szenario Wirklichkeit wird.
25 Oct 2015
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
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