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# taz.de -- Kolumne Immer bereit: Tanja lernte schnell und passte sich an
> Lenin ist wieder da. Zumindest sein Schädel aus Granit.
Bild: Zuletzt gesehen beim Ausnüchterungsspaziergang: Lenins Dickschädel
Ich weiß noch, wie die Leninstatue geschleift wurde im November 1991. Es
war der Tag nach der Geburtstagsfete meiner Mutter. Sie war damals kaum
älter, als ich heute bin. Die Feten meiner Eltern waren legendär. Es wurde
geraucht, bis man vom einen Ende des Flurs nicht mehr zur Küchentür am
anderen Ende gucken konnte. Manchmal lagen noch Schnapsleichen im Flur rum,
wenn ich am nächsten Morgen nach Hause kam. Ich schlief bei Feten immer bei
Oma.
Am Sonntag nach der Party machten wir mit den Geburtstagsgästen, die aus
dem Westen angereist waren, einen Ausnüchterungsspaziergang durch den
nebligen Friedrichshain zum Platz der Vereinten Nationen, der damals noch
Leninplatz hieß. Das Monument war eingezäunt, nasse Transparente klatschten
gegen die Gitter. Es gibt ein Foto von uns davor, aber meine Mutter weiß
nicht mehr, in welcher Kiste.
Es war Mamas dritter Geburtstag hintereinander, der von historischen
Ereignissen begleitet wurde. Es wurde schon langsam langweilig.
Gestern war ich mit meiner Freundin Tanja einen trinken. Wir redeten über
Bücher, Männer und Flüchtlinge. Tanja war damals sechs, als sie 1987 mit
ihren Eltern in Deutschland ankam. Das erste Jahr in Deutschland ist aus
ihrem Gedächtnis gelöscht. „Wird schon seine Gründe haben“, sagt Tanja.
Dabei ist die Familie nicht mal geflüchtet. Sie gehört zu den sogenannten
Spätaussiedlern – „Spätis“, sagt Tanja. „In Kasachstan waren wir die
Nazis“, sagt Tanja, „hier aufm Dorf in Hessen waren wir die Russen.“ Sie
erzählt, wie gruselig das war, zu sehen, wie die Leute ihre Münder
bewegten, ohne dass die Laute, die sie machten, einen Sinn ergaben. Tanjas
Mutter erzählt, das erste Jahr habe das Kind im Kindergarten nur unterm
Tisch gesessen. Aus Angst vor den anderen Kindern.
Aber Tanja lernte schnell und passte sich an. Bald wusste keiner mehr, dass
ihre Eltern nicht nur Deutsch sprachen. Einmal rief eine Schulfreundin bei
ihr an. Am nächsten Tag empörte sich das Mädchen vor versammelter Klasse,
warum bei Tanja zu Hause die Putzfrau ans Telefon ging. „Das war nicht die
Putzfrau“, sagt Tanja, „das war meine Mutter.“
Als sie 20 Jahre alt war, ging Tanja zum Studium nach Braunschweig. Dort
traf sie zum ersten Mal jemanden, der auch Migrationshintergrund hatte.
Nach über zehn Jahren! Özlem studierte Germanistik wie sie.
Tanja ist in ihrer ganzen Familie die Einzige mit Hochschulabschluss. Ihre
Mutter ist Friseurin. Ihr Vater Taxifahrer. „Du Bildungsbürgerkind wirst
doch immer aufgefangen, wenn was passiert“, hat sie mal zu mir gesagt, da
hatten wir uns gestritten, warum sie sich nicht als Lektorin selbständig
machte, statt als unterbezahlte Tippse in einem drittklassigen Büro zu
arbeiten, „Ich muss mich selber absichern.“
Heute lebt Tanja in Berlin. Ihre Eltern haben auf dem Dorf in Hessen ein
Haus gebaut. Über die Jahre sind andere russlanddeutsche Familien
nachgekommen. Sie bleiben unter sich. Ein Cousin von ihr hat sich jetzt ein
junges Mädchen zum Heiraten aus Russland geholt. Vorher hatte er jahrelang
alles gevögelt, was nicht wegflog.
Tanja hat sich jetzt bei der Flüchtlingshilfe gemeldet. „Ich will
Deutschunterricht geben“, sagt sie. Aber sie brauchen grad niemanden. Ob
ihr was zu Lenin einfalle, frage ich sie. Ich muss morgen Kolumne
schreiben.
„Ja!“, sagt Tanja und erzählt: „Ich war ganz klein, höchstens fünf Jah…
alt. Meine beste Freundin Olga und ich saßen bei uns im Dorf in Kasachstan
auf einer Mauer und diskutierten, wer wichtiger sei, Lenin oder Gott. Im
Kindergarten sagten sie immer: ‚Sei artig! Lenin sieht, wenn du nicht artig
bist!’ Und wenn wir nach Hause kamen, sagten die Eltern ‚Nee, nee, nicht
Lenin, Gott sieht alles!’ Es war so verwirrend. Olga und ich überlegten.
Und dann wusste ich die Lösung! ‚Olga, ich hab’s’, sagte ich zu Olga,
‚Lenin ist berühmter. Und weißt du, warum? Von Lenin hängen überall Bilder
rum, und von Gott kein einziges. Jemand, von dem sich niemand ein Bild
hinhängt, der kann nicht so mächtig sein.’“
Bestechende Logik, denke ich. Tanja geht schnell mal eine Kippe schnorren.
Wir nehmen noch einen Wodka. Damit wir morgen auch Granitschädel haben.
Mindestens so groß und mächtig wie der von Lenin.
20 Sep 2015
## AUTOREN
Lea Streisand
## TAGS
Kolumne Immer bereit
Schwerpunkt Stadtland
Bahn AG
Kolumne Immer bereit
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