# taz.de -- Kolumne: Immer bereit: Schubladen und Bier | |
> Ergriffen von der Geschichtsträchtigkeit der eigenen Familie. | |
Bild: Die Mauer zerteilte Familien. Heute sind die Reste eine Touristenattrakti… | |
Gestern Abend war ich bei Steffi, zum Biertrinken. Steffi wohnt im Wedding. | |
Schon immer, seit sie in Berlin ist. In derselben kleinen Zweizimmerwohnung | |
mit demselben Mitbewohner, von dem sie mittlerweile ein zweijähriges Kind | |
hat. Die beiden wollen demnächst heiraten. Ihr Bräutigam-Mitbewohner | |
arbeitet zurzeit in Bonn, deswegen kann Steffi abends nicht weg und man | |
muss Bier mitbringen. "Wir lesen ja immer deine Kolumnen", sagt Steffi, | |
"aber Dirk meinte neulich, er finde es ein bisschen schade, dass du jetzt | |
auch so in die Ost-West-Schiene abrutschst." | |
Vor Überraschung setze ich das Bier zu schnell ab. "Zumb!", macht die | |
Flasche. "Aber dafür kann ich nichts", sage ich, "das hat die taz sich | |
ausgedacht. Die bezahlen mich dafür!" Ich muss daran denken, dass unter | |
meiner ersten Zonengaby-Kolumne jemand online kommentierte, wer denn so was | |
noch brauche, 20 Jahre nach der Wende, und ob nicht langsam mal | |
zusammengewachsen sei, was zusammengehört. Sinngemäß, man kann das nicht | |
nachprüfen, beim Online-Relaunch sind die alten Kommentare futsch gegangen. | |
"Ach so", sagt Steffi und erzählt, dass Dirk eine Kollegin hat, auch | |
Ostberlinerin, die teile die ganze Welt ein in Ost und West. "Dirk ist ihr | |
liebstes Opfer", sagt Steffi. | |
Dirk ist ein echter Schwabe. Der einzige, den ich kenne, übrigens. Deswegen | |
hab ich auch erst gar nicht kapiert, wovon die Rede ist, als das mit dem | |
Schwabenbashing losging vor ein paar Jahren. Dirk auch nicht. Plötzlich | |
musste er sich pausenlos rechtfertigen für Sachen, die er nie getan hat und | |
nie tun würde. Wie in einer Facebook-Diskussion, nur in echt. Der arme | |
Kerl! | |
"Manchmal nervt das schon ein bisschen", sagt Steffi, "dass die Berliner so | |
großen Wert drauf legen, welcher Bezirk, Ost oder West, die ganzen | |
Schubladen." - "Na ja", überlege ich, "Vielleicht ist es für Berliner so | |
bedeutend, weil die so direkt betroffen waren. Immerhin ging eine Mauer | |
durch die Stadt. Meine beiden Eltern wurden am 13. August von ihren | |
Großmüttern getrennt, die beide in Charlottenburg lebten. Meine Tante hatte | |
Mumps an dem Tag und lag mit Fieber im Bett. Sie dachte, wenn sie wieder | |
gesund ist, ist die Mauer weg. War aber nicht so. | |
Neulich hab ich eine geborene Charlottenburgerin getroffen, die hat | |
dieselbe Geschichte erzählt, nur andersrum. Die hatte Großeltern in | |
Baumschulenweg. Bei denen war sie im August 61 zu Besuch, weil große Ferien | |
waren. Ihre Eltern hatten furchtbare Angst. Die Mutter hat geweint am | |
Telefon. Zwei Tage hat es gedauert, dann wurde sie an der Bornholmer Brücke | |
den Eltern übergeben. Sie hat mir erzählt, dass sie jahrelang die Straßen | |
gemieden hat, wo man die Mauer sehen konnte. ,Wir haben uns immer | |
eingesperrt gefühlt', hat sie gesagt, ,alles war irgendwie zu eng', hat sie | |
gesagt. ,Wenn man im Sommer zum Baden an den Wannsee gefahren ist, lagen | |
die Handtücher fast übereinander.' Die stand sogar vor dem Schöneberger | |
Rathaus, als Kennedy auf dem Balkon behauptete, einer von uns zu sein", | |
sage ich. | |
"Einer von uns", wiederholt Steffi, "ich wusste gar nicht, dass das für | |
dich alles so wichtig ist. Du warst doch ein Kind, als die Mauer fiel!" - | |
"Zehn war ich", sage ich, "vierte Klasse. So alt übrigens, wie meine Mutter | |
war, als die Mauer gebaut wurde." Plötzlich bin ich ganz ergriffen von der | |
Geschichtsträchtigkeit meiner Familie. "Stell dir mal vor", sage ich zu | |
Steffi, "du gehst zu Aldi und findest nichts mehr, weil alle Produkte, die | |
du immer gekauft hast, aus den Regalen verschwunden sind und durch ganz | |
andere ersetzt wurden. Stell dir vor, deine Lehrer haben plötzlich keine | |
Ahnung mehr." - "Hm", sagt Steffi, "diesen Verdacht hatte ich bei meinen | |
Lehrern immer." | |
Mittlerweile bin ich richtig in Fahrt gekommen: "Stell dir vor, du stehst | |
morgens auf und lebst in einem anderen Land!", deklamiere ich. "Okay, | |
okay", sagt Steffi und holt ein neues Bier aus dem Kühlschrank. Als sie | |
zurück ist, sagt sie: "Vielleicht solltest du das aufschreiben. Ich weiß | |
nicht, ob ich Dirk das so wiedergeben kann, wenn ich ihn das nächste Mal | |
spreche." - "Ja okay", sage ich, "immer bereit!" | |
5 Aug 2013 | |
## AUTOREN | |
Lea Streisand | |
## TAGS | |
Kolumne Immer bereit | |
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