# taz.de -- Kolumne Immer bereit: Bin ich halt die Zonengaby | |
> Lea Streisand ist von nun an das lebendige Ampelmännchen der taz. | |
Bild: Lebt längst im Westen: das Ampelmännchen. | |
Mehr als 23 Jahre ist es her, dass Günter Schabowski bei der | |
Pressekonferenz den richtigen Zettel verschlampte und deshalb aus Versehen | |
die Mauer fiel. Mit Menschen, die in der darauf folgenden Nacht des Jubels | |
gezeugt wurden, darf man schon seit sieben Jahren legal Sex haben (zum | |
Nachrechnen: November 89 + 9 Monate = August 90; + 16 Jahre = 2006). | |
Seit fünf Jahren bin ich mit einem Westdeutschen liiert, den ich Paul | |
nenne. Er selbst nennt sich „norddeutsch“, weil er aus Flensburg kommt. | |
„Seit mein Vater dich kennt, sagt er nicht mehr Zone“, sagt Paul, | |
„zumindest nicht vor dem dritten Flens.“ Nach dem vierten Flens redet Pauls | |
Vater auch vom Iwan. Ich mag Pauls Familie, und Pauls Familie mag mich. Ich | |
bin für sie so was wie ein lebendiges Ampelmännchen. Pauls Vater sammelt | |
nämlich Sachen aus dem Osten. Ein Haus und drei Schuppen hat er schon mit | |
Zeug voll gesammelt. | |
Er hat in der Beziehung ein bisschen Ähnlichkeit mit Arthur Weasley, dem | |
Vater des besten Freunds von Harry Potter. Der arbeitet im | |
Zaubereiministerium und sammelt Muggel-Artefakte, nichtmagische | |
Gegenstände. „Was genau ist die Funktion eines Gummientchens?“, will Mr | |
Weasley von Harry Potter wissen, als er ihn das erste Mal trifft. | |
Wenn ich irgendwo in der Ferne Geschichten vorlese, erzählen mir die Leute | |
in der Pause immer als Erstes, dass sie auch schon mal in Berlin waren. | |
„1976 in Kreuzberg“, sagen sie stolz, „da hat sich sicher einiges | |
verändert“. – „Vermutlich“, sage ich dann freundlich und nicke. | |
Letztens war ich auf einem Poetry Slam in Leoben. Das liegt in der | |
Steiermark in Österreich. „Ich war auch schon mal in Berlin“, erzählte ein | |
Herr mit grauem Bart. „Bestimmt vor dem Mauerfall“, rate ich. „Ja“, sag… | |
fröhlich, „sogar vor dem Mauerbau. Das war 1936!“ Ich starre ihn an. Er hat | |
mich bestimmt falsch verstanden und mir sein Geburtsjahr genannt, denke ich | |
und sage: „Nein, wann Sie in Berlin waren, wollte ich wissen.“ – „Na ja, | |
sag ich doch“, sagt er, „1936. Mit dem KdF. Zu den Olympischen Spielen. Ich | |
war gerade 16 geworden.“ | |
In Wahrheit habe ich von Kreuzberg überhaupt keine Ahnung. Wie auch? Ich | |
bin in Pankow geboren, in Prenzlauer Berg aufgewachsen, in Lichtenberg zur | |
Schule gegangen und wohne jetzt wieder in Pankow. Mein engster Kontakt mit | |
dem Westen war ein Jahr Hamburg, direkt nach der Schule. Ich bin fast | |
gestorben vor Heimweh. Immerhin hab ich eine Lesebühne in Neukölln. Und | |
seit heute hab ich eine Kolumne bei der taz! Mehr Westen geht ja kaum. | |
Zumindest nicht in Berlin. „Worüber würdest du denn gern schreiben?“, wur… | |
ich gefragt. „Mhm. Keine Ahnung“, sagte ich, „vielleicht was mit Literatu… | |
Oder Sex? Oder Gott? Irgendwas, wo nicht so viel ’ich‘ drin vorkommt.“ – | |
„Wie wäre es, wenn du was aus der Ostberliner Perspektive schreibst?“, | |
fragten die Ressortleiterinnen. | |
Bitte sehr. Bin ich halt die Zonengaby. Die Tante ausm Osten bei der | |
Westzeitung. Ich bin das lebendige Ampelmännchen. Wie sagt der | |
Thälmannpionier? Immer bereit! | |
12 Apr 2013 | |
## AUTOREN | |
Lea Streisand | |
## TAGS | |
Kolumne Immer bereit | |
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