# taz.de -- „Mein Kampf“ im Theater: Die Gewalttätigkeit eines Buches | |
> Rimini Protokoll inszenieren „Mein Kampf“ auf dem Kunstfest in Weimar. | |
> Das wirkt auf angemessene Weise anstrengend. | |
Bild: Großer Erkenntnisgewinn? Szene aus der Inszenierung. | |
Sibylla Flügge macht den Anfang. Die 1950 geborene Rechtswissenschaftlerin | |
erzählt im E-Werk in Weimar, wie sie als 15-Jährige zur Lektüre von Adolf | |
Hitlers „Mein Kampf“ kam. Es war das Schweigen in der Familie über den | |
Nationalsozialismus, die die Pfarrerstochter dazu brachte, Hitlers Buch zu | |
kaufen und Exzerpte ihren Eltern zu Weihnachten zu schenken. | |
Sie interessierte die Technik der Propaganda, die Bilder vom Volk als | |
Masse, das wie der Körper einer Frau verführt werden muss. Die Idee, dass | |
nur ein Kopf, ein Führer alles entscheidet. Aber das Schweigen blieb. Wie | |
sehr die Vergangenheit ihre Familie berührt, beginnt man erst am Ende der | |
Uraufführung von „Adolf Hitler: Mein Kampf, Band 1 & 2“ zu erahnen. | |
Dann nämlich liest die zurückhaltende ältere Dame den letzten Brief vor, | |
den ihre Schwester den Eltern schrieb, bevor sie sich in den Untergrund | |
verabschiedete, gegen Faschisten und Ausbeuter. Sprache und Rhetorik der | |
angehenden Widerstandskämpferin sind, das hört das inzwischen geschulte Ohr | |
der Zuschauerin, verblüffend nah der Rhetorik faschistischer Propaganda. | |
Kein einfacher Moment für Sibylla Flügge auf der Bühne, dennoch still und | |
unspektakulär inszeniert. | |
Ein anderer der sechs LeserInnen, den das Regieteam Helgard Haug und Daniel | |
Wetzel von Rimini Protokoll für ihren heiklen Lektürezirkel gewinnen | |
konnten, ist Alon Kraus, Rechtsanwalt im israelischen Tel Aviv. Der | |
drahtige Mann verpackt seine Begegnungen mit Hitlers Erzählung in | |
überraschende und provokante Geschichten. Als junger Student habe er sich | |
mit der Lektüre von „Mein Kampf“ angefeuert und eine Schreibblockade | |
überwunden. Über gemeinsames „Mein Kampf“-Lesen deutsche | |
Israelurlauberinnen anzumachen schlug allerdings fehl. | |
## 15 türkische Ausgaben | |
Ihn fasziniert die Gewalttätigkeit des Buches. Und der will er große | |
Sichtbarkeit verschaffen. Nicht zuletzt, weil die Sprachbilder der | |
Ausgrenzung, der Legitimierung von Rassismus, gerade jetzt wiederkehren. Es | |
sind beeindruckende Protagonisten, die Rimini Protokoll für die | |
Auseinandersetzung mit Hitlers Hetzschrift, deren Urheberrechtsschutz 2016 | |
endet, gefunden haben. Nicht zuletzt bieten sie eine Fülle von | |
Informationen an; über die Karriere des Buches bis 1944: 12,5 Millionen | |
gedruckte Exemplare. Oder die vielsprachigen Nachdrucke in der Gegenwart: | |
in Indien, im Libanon, in Marokko, Japan. | |
In der Türkei, weiß Volkan T., Hardcore-HipHopper und ebenfalls ein | |
Protagonist der Inszenierung auf der Bühne, konkurrierten bis 2005 allein | |
15 Verlage mit unterschiedlichen Ausgaben, dann kam es zu | |
Lizenzstreitereien. Anna Gilsbach, eine junge Völkerrechtlerin, informiert | |
auf der Bühne detailliert, warum sich das Buch nicht verbieten lässt, wohl | |
aber seine Verbreitung. | |
Christian Spremberg, der blind ist und ein guter Vorleser, bringt | |
Abschnitte des verstiegenen Textes zu Gehör. Da geht es zum Beispiel um den | |
Judenhass und darum, wie Hitler sich als jemand stilisiert, der diesen Hass | |
erst gegen innere Widerstände lernt, in ihm aber das beste Instrument der | |
Propaganda erkennt – denn wer die Juden zum Sündenbock macht, bringt die | |
Massen hinter sich. | |
## Steif und sperrig | |
Auch als Zuschauer kommt man aus dem Zwiespalt nicht heraus, einerseits | |
voller Ablehnung von der Herleitung des Judenhasses nichts hören zu wollen, | |
andererseits aber auch zu ahnen, dass man sich das Fortleben solcher | |
Ideologien nicht so einfach vom Leib halten kann. Das macht diese | |
kollektive Theaterlektüre sinnvoll, aber auch steif und sperrig. Man bewegt | |
sich gewissermaßen auf Zehenspitzen durch diese Textlandschaft. Und ist | |
schon froh, dass wenigstens Alon Kraus und Volkan T. so beherzt hin und her | |
stapfen. | |
In Weimar hielt die NSDAP 1929 ihren ersten Parteitag nach der Aufhebung | |
ihres Verbots ab. Nicht zuletzt das war für Christian Holtzhauer, Intendant | |
des Kunstfestes Weimar, ein Motiv, die Auseinandersetzung mit dem | |
Nationalsozialismus zum Teil des Programms zu machen. Weitere Aufführungen | |
bei Koproduktionspartnern in Graz, München, Zürich, Mannheim und Berlin | |
haben Rimini Protokoll schon geplant. | |
Schon einmal ließen die Theaterleute auf der Bühne ein Buch studieren, | |
„Karl Marx. Das Kapital, Erster Band“. Und tourten damit international an | |
die 100-mal. Das Bücherregal aus dem früheren Bühnenbild wurde jetzt für | |
„Mein Kampf“ recycelt, von der Rückseite genutzt. Absichtsvoll bleibt die | |
Rahmung der vielen Informationen, Exzerpte, Kommentare und Erzählungen | |
provisorisch. | |
Die spielerische Stärke der damaligen Produktion, die sich ihrem Gegenstand | |
ja mit Emphase nähern konnte, hat der jetzige Abend nicht. Kein Wunder. Er | |
bleibt Anstrengung – aber eine angemessene. | |
4 Sep 2015 | |
## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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